Das ist die Frage, die die Gemüter all jener erregt, die es mit dem Hamburger SV halten. Abgesichts der tabellarischen Talfahrt scheint die Antwort einfach: weg mit ihm! Jeder Trainer wird vor allem an Ergebnissen gemessen. Dem HSV fehlen Punkte, eindeutig. Die Mannschaft ist auf einen direkten Abstiegsplatz abgerutscht und sie bot, wie z.B. in der zweiten Hälfte gegen die TSG Hoffenheim, erschreckende Leistungen. Die Punkteausbeute unter diesem Trainer unterbietet sogar den bereits wenig berauschenden Quotienten seines Vorgängers. Seit Tagen feuert der Boulevard aus allen Rohren. Dieser Trainer sei faul, liest man. Unbelehrbar sei er auch, und er habe, der Gipfel aller Behauptungen, gravierende fachliche Defizite. Doch ist das so (einfach)?
Die Ära van Marwijks begann mit einem temporären sportlichen Aufschwung. „Europapokal!, Europapokal!“ sang mancher, der heute z.T. auf übelste und niederträchtigste Art am Trainerstuhl sägt. Da wurde dem Niederländer sogar verziehen, dass er im Hotel wohnte und keinerlei Anstalten machte, sich wenigstens eine Wohnung zu mieten. Auch seine regelmäßigen Fahrten zu seiner Familie waren kein Thema. Doch wer kennt sie nicht, die vermeintlich längst beigelegten Konflikte, die im Streitfall plötzlich wieder hervorgeholt, aufgewärmt und als angeblich schlagende Argumente für die Defizite des Anderen ins Feld geführt werden? Nichts scheint sich doch gebessert zu haben. Die Mannschaft auf Platz 17 und an der zu Beginn bejubelten Handschrift wird nun gezweifelt. Die Heimfahrten gelten jetzt als Ausdruck mangelnder Führungsstärke, das Hotelzimmer als Beleg mangelnder Identifikation mit dem Verein und, schlimmer noch, mit der Stadt. Sein entschiedenes Auftreten, seine klaren Ansichten belegen nun angeblich seine Unbelehrbarkeit.
Eindeutig ist, dass sich Bert van Marwijk von niemandem auf der Nase herumtanzen lässt. So drohte er bereits in den ersten Pressekonferenzen jedem mit Rauswurf, der negativ sei. Auch den anwesenden Damen und Herren Meinungsmachern beschied er kühl, dass er entscheidet, was gemacht und wie es gemacht wird. Ein Vorgehen, das ich in Hamburg für längst überfällig halte, das aber einem permanenten Tanz auf der Rasierklinge gleichkommt. Denn so einer wird auf Dauer nur im Erfolg geduldet, geliebt wird er nie. Es gibt in und rund um den HSV zu viele, viel zu viele, die mitreden wollen. Und all die, die so lange ruhig gestellt waren, so lange der Erfolg anhielt, fühlen sich im Falle des Misserfolgs berufen, ihr Urteil abzugeben. Im Grunde ist es stets dasselbe: Der Erfolg hat immer viele Väter, der Misserfolg nur einen.
Um die Arbeit und Eignung eines Trainers tatsächlich und umfassend selbst beurteilen zu können, wären eine Reihe von Kriterien zu erfüllen. Als da wären: eigene, im engeren Sinne sportfachliche Qualifikation (Trainingsmethodik, Taktik); regelmäßige, eigene Anwesenheit beim Training; Zugang zum Allerheiligsten, dem Kabinentrakt; fundierte sportpsychologische Kenntnisse; solide Ausbildung im Umgang mit statistischen Daten; gute brancheninterne Vernetzung und, last but not least!, ein permanenter Blick auf die finanziellen Rahmenbedingungen des jeweiligen Vereins. Und am Ende sind dann auch die unter ihm erzielten Punkte zu berücksichtigen. Diese Kriterien sind alle mit einander verknüpft, in Beziehung zu bringen und zu gewichten. Um es möglichst kurz zu halten: Jeder hat ein Recht auf seine eigene Meinung, aber von mir geschätzte mehr als 95 Prozent aller Kritiker, die Experten der Sportredaktionen eingeschlossen, erfüllen mindestens eins (oder gleich mehrere) der genannten Kriterien eindeutig nicht. Auch ich nicht. Und das erschwert die eigene Meinungsbildung.
Ich möchte hier zwei Aspekte anreißen, die derzeit heiß diskutiert werden: Den Fitnesszustand der Mannschaft, angeblich belegt durch Tracking-Daten. Stichwort: zu lasches, falsches Training. Und etwas, von dem ich befürchte, dass es diesem Trainer am Ende den Kopf kosten wird.
1. Laufleistung, Fitness und Spielausgang
Es kann gar nicht bestritten werden, dass Fußball ein Laufspiel ist. Das ist eine Phrase. Seit aber die s.g. Tracking-Daten veröffentlich werden, meint halb Deutschland, es sei zu einer Analyse des Fitnesszustandes einer Mannschaft oder zur Beurteilung des Trainings (und damit des Trainers), das der Laufleistung zugrunde liegt, qualifiziert. Mit zum Teil erstaunlicher Akribie werden Rangfolgen erstellt, Mittelwerte errechnet und dann leichtfertig weitreichende Schlüsse gezogen.
Eine s.g. Korrelation, liebe Leute, ist ein wie auch immer gearteter Zusammenhang zwischen einem Merkmal und einem (oder mehreren) anderen. Da Fußball (auch) ein Laufspiel ist, steht das Laufen zweifellos in einer Beziehung zu diversen, anderen Parametern, auch zum Ergebnis oder zur Fitness. Das korreliert mit einander. Aus dem allgemeinen Merkmal Laufleistung, auch wenn man es aufschlüsselt in Gesamtdistanz, intensive Läufe und Sprints, meint nur der Laie schlussfolgern zu dürfen, dass hier ein kausaler Zusammenhang bestünde. Frei nach dem Motto: weil das Taining unter van Marwijk zu lasch ist, laufen die Spieler weniger. Und weil die HSV-Spieler weniger laufen, darum steht der HSV auf Platz 17. Das ist mit Verlaub Statistik für Milchmädchen. Auf ähnlichem küchenpsychologischem Niveau angesiedelt wie die Behauptung, weil es den Spielern des HSVs an Charakter fehle, deswegen verlören sie die Spiele. Ebenfalls ähnlich gelagert wäre die Annahme, dass man aus der Anzahl der veröffentlichten und/oder öffentlich zugänglichen Trainingseinheiten gesichert schlussfolgern könne, was Trainer und Mannschaft so den lieben langen Tag treiben.
Nicht nur Ottmar Hitzfeld beklagte bereits vor inzwischen einigen Jahren, dass er als Bundesligatrainer deutlich mehr als 60 Prozent seiner Zeit mit administrativen Aufgaben, mit Presse- und Sponsorenterminen etc. pp. verbringen müsse, was ihn bei seiner Kernaufgabe, der Arbeit mit den Spielern oder der Mannschaft, behindere und einschränke. Das ist der Preis, den die Trainer heute für die permanent zunehmende Professionalisierung des Sports, auch für ihre hohen Gehälter zu zahlen haben. Es ist im Grunde albern: nur weil man einen Ausschnitt aus der Arbeit eines Trainers wahrnimmt, wird behauptet, man könne dessen gesamtes Leistungsbild beurteilen. Fast möchte man sarkastisch rufen: Schließt doch beide Augen, dann seht ihr noch mehr!
Sicher ist Olaf Kortmanns Argumentation nachvollziehbar, dass es rein sportlich u.U. klüger gewesen wäre, hätte man die Mannschaft unter hiesigen klimatischen Bedingungen an das Spiel gegen Schalke herangeführt. Denn grundsätzlich und unbestreitbar gilt: Das Training sollte größtmöglich der realen Wettkampfsituation ähneln. Er übersieht hier m.E. jedoch zweierlei:
a.) Der HSV hatte bereits einige verletzte Spieler und die Personaldecke der ersten Mannschaft, sieht man von den abzugebenden Spielern ab, ist dünn. Training auf gefrorenem oder seifigem Boden birgt unbestreitbar ein höheres Verletzungsrisiko. Auch aus diesem Grunde zieht es keineswegs nur den HSV sondern viele, viele Profi-Mannschaften für die Rückrundenvorbereitung in wärmere Gefilde.
b.) Der HSV ist an Verträge gebunden, die mutmaßlich mit einigem zeitlichen Vorlauf geschlossen wurden. Und der HSV benötigt inzwischen jeden Cent! Ob es angesichts der zunehmend komplizierter werdenen tabellarisch/sportlichen Situation überhaupt möglich gewesen wäre, aus diesen Verträgen auszusteigen, um wie von Kortmann gefordert, die ursprünglich geplante Vorbereitung umzustellen, das kann er m.E. ebenso wenig wie wir beurteilen.
Damit bin ich bei dem zweiten Aspekt: van Marwijk äußerte unlängst während einer PK beiläufig, dass er sich nicht zu (weiteren) neuen Spielern äußern wolle, dass er darüber gar nicht nachdenken wolle, da die Situation sei, wie sie nun einmal sei. Und er würde ansonsten nur schlechte Laune bekommen. Meines Erachtens zeigt sich hier, dass er sich in einer Mischung aus Loyalität, Pragmatismus und Fatalismus mit den Gegebenheiten beim HSV auseinandersetzt. Nicht die schlechteste Einstellung, finde ich.
Es ist wohlfeil, permanent nach neuem Personal zu rufen, wenn man selbst nie den Kopf hinhalten muss. Diejenigen, die gestern den finanziellen Abgrund behaupteten, die dann ungerührt neues Personal forderten, obwohl das alte noch auf der Payroll stand, die dann heute erneut über die finanzielle Lage barmen um morgen wieder, und dieses Mal gleich mehrere(!) Führungsspieler zu fordern, sind übermorgen die, die den Lizenzentzug bejammern und Köpfe rollen sehen wollen. Allerdings nie ihren eigenen. Selbstverständlich ist (fast) alles teurer als der Abstieg. Aber auch das bleibt unbestreitbar und wahr: Geld, das man nicht hat, das kann man, jedenfalls auf Dauer, nicht ausgeben.
Mich erinnert van Marwijk in diesem Zusammenhang an Lucien Favre in seiner letzen Saison bei Hertha BSC. Zu Beginn der damaligen Spielzeit hieß es, Hertha müsse dringend sparen. Favre, ebenfalls pragmatisch und loyal, verzichtete auf Verstärkungen. Dann geriet er mit der Mannschaft in Abstiegsgefahr und wurde gefeuert. Seinem Nachfolger, Funkel, gewährte man dann 2,5 Millionen Euro für Verstärkungen. Ich behaupte, wäre Favre egoistischer gewesen, hätte man bereits ihm dieses Geld zu Saisonbeginn zur Verfügung gestellt, viele weiteren Dinge, die übrigens dann noch teurer wurden, wären der Hertha erspart geblieben.
Alles, was ich bisher von van Marwijk hörte, hatte Hand und Fuß. Und in meinen Augen hat er eine gewisse Klasse, z.B. im Umgang mit den z.T. ehrabschneidenden Vorwürfen der letzen Tage und Wochen, bewiesen. Auch wenn er sich zum Beispiel hartnäckig weigert, Interna preiszugeben, oder sich vor Tah oder andere Spieler stellt. Wenn dieser Mann sagt, alle Fitnesswerte seien im grünen Bereich, dann glaube ich ihm das. Das Gegenteil könnte man nur dann begründet behaupten, wenn einem selbst die Werte zugänglich wären. Meines Wissens ist aber kein Kritiker im Besitz dieser Daten. Und es lässt sich begründet vermuten, dass es ihnen, selbst wenn sie sie hätten, an der Qualifikation (s.o.) mangelt, um sie sachgerecht zu interpretieren.
Kurz zu seinen Trainingsinhalten, soweit sie (mir) zugänglich sind: Offenbar setzt Bert van Marwijk viel auf Spiel- und Passformen mit Ball. Ich halte das für grundsätzlich ebenso richtig, wie ich es für richtig halte, dass er sich öffentlich als Trainer vor einzelne Spieler, bzw. diese junge Mannschaft stellt. Was intern passiert oder passieren sollte, das steht auf einem anderen Blatt. Dieses ist aber (s.o.) von Außenstehenden im Grunde nicht seriös zu beurteilen. Neben technisch-taktischen Defiziten verorte ich das derzeitige Hauptproblem der Mannschaft im mentalen Bereich. Nur so sind die wiederholten Blackouts zu erklären, oder die haarsträubenden technischen und taktischen Fehler. Niemand wird mich davon überzeugen, dass diese im Grunde talentierte Mannschaft, die zudem systematisch z.B. das Passen trainiert, das Fußballspielen vollkommen verlernt hat. Fehlpässe, wie sie vor allem während der gesamten zweiten Hälfte gegen Hoffenheim gespielt wurden, sind anders einfach nicht zu erklären. Selbst wenn man behaupten wollte, einmal Training sei zu wenig, zweimal sei besser – deswegen spielt man als Profi nicht serienweise Bälle aus vier, fünf Metern am Kollegen vorbei.
Allerdings, das ist die normative Kraft des Faktischen, ist es müßig, ob wir für oder gegen diesen Trainer argumentieren. Am Ende zählen auch die Punkte. Nur im Leistungsnachwuchsbereich kann man sich davon zugunsten der individuellen Ausbildung seiner Talente bis zu einem gewissen Grad abkoppeln. Aber selbst dort gilt: Jeder Verein muss bestrebt sein, die höchste Liga zu erreichen und auch zu halten. Es steht daher zu vermuten, dass man, sollten nicht bald Punkte gesammelt werden, in einem Akt völliger Verzweiflung die letzte Patrone verfeuert. Dann aber wäre keineswegs bewiesen, dass van Marwijk ein fauler, schlechter Trainer ist. Dann wäre nur ein weiteres Bauernopfer für den Jahrzehnte währenden Kompetenzmangel im und rund um den Hamburger SV gefunden.
Kein Journalist an der Imtech Arena erfüllt alle die von Dir genannten Kriterien. Ergo schreibt er was er sieht oder hört um nicht noch schneller als ein HSV Trainer von der Bildfläche zu verschwinden. Heute bei lausigem Wetter, Regen und Sturm, standen die Reporter an der Arena bis BvM den Platz verließ, um ihm einige Fragen zu Adler und Lasogga zu stellen. Beide spielten im Training durch und Adler war als letzte mit Ronny Teuber auf dem Platz.
van Marwijk beantwortete die Fragen der Jornalisten wie folgt: „Ich muß morgen sehen wie sich das Training ausgewirkt hat und dann werden wir mit der medizinischen Abteilung sprechen.“
Benno, ich sage nicht, dass man alle Kriterien erfüllen muss, damit man sich eine Meinung erlauben darf. Ich erfülle auch nicht alle und habe dennoch eine Meinung. Im Grunde ist es ein Plädoyer, sich bewusst zu werden/zu sein/zu bleiben, was man tatsächlich weiß, bzw. was man eben nicht weiß! Die von mir gemeinten Damen und Herren erwecken allerdings viel zu oft den Anschein, als seien sie im Besitz fundierten Tatsachenwissens. Sind sie aber oft nicht. Erkennbar u.a. an den Artikelüberschriften, an deren Ende ein Fragezeichen allein deswegen gesetzt wird, damit sie ggf. nicht juristisch belangt werden können. Ihre Ausrede ist nämlich dann: Wir behaupten ja gar nicht, wir haben doch nur gefragt.
Ja, das Leben der Hamburger Sportjournalisten ist schon ein Martyrium. Ist es unter 2 Grad, fährt man mit seinem Auto direkt an den Trainingsplatz und beobachtet mit laufendem Motor (es darf ja nicht zu kalt werden) das Training durch die beschlagene Scheibe.
Oder man „züchtet“ sich eine begrenzte Anzahl (der begrenzt passt hier nicht nur für die Anzahl) von Trainings-Rentnern heran, die einem eventuelle Trainingsinhalte via sms übermitteln, man dreht sich dann im Bett einfach nochmal um.
Schade nur, dass diese Kiebitze nicht nur noch weniger Ahnung von Trainingslehre haben als der Verfasser der folgenden Sensationsmeldungen, nein, sie können größtenteils Kacar nicht von Berg unterscheiden. Und aus solchen Informationen werden dann Nachrichten „gebaut“, die den Verein immer wieder in Erklärungsnot bringen.
Sorry, aber mein Mitleid für diese unanengagierte, untalentierte und überhebliche Berufsgruppe hält sich massiv in Grenzen
Um Ahnung zu haben muss man, umgeben von seinen Jüngern, oben auf der Treppe sitzen, weil man den besseren Überblick hat. Nicht nur über Fussi, sondern auch über alle älteren Menschen die sichdas Training des HSV ansehen.
Deine Menschenkenntnis ist unbeschreiblich, siehe Lars49.