Entschuldigt bitte, dass der Artikel zum Spiel heute etwas später kommt, aber ich wollte mir das, was da gestern in Belo Horizonte geschehen ist, noch einmal in voller Länge anschauen. So etwas erlebt man schließlich nicht alle Tage.
Brasilien galt lange Jahre als das Maß aller Dinge im Weltfußball. Jedenfalls wenn man an die Vielzahl der wirklichen Ausnahmekönner denkt, die dieses Land hervorgebracht hat. Pelé, Garrincha, Falcão (gemeint ist Paulo Roberto Falcão), Sócrates und Zico sind Namen, die wohl jedem ernsthaften Fußballfan geläufig sind. Das Reservoir an Talenten in Brasilien schien lange Zeit nahezu unerschöpflich. Bis heute findet man Profis aus Brasilien in praktisch allen bedeutenden Ligen rund um den Globus.
Ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Seleção ist immer etwas besonderes, zumal wenn man im Halbfinale einer Weltmeisterschaft in Brasilien aufeinander trifft. Auch wenn die Seleção inzwischen längst nicht mehr derart zaubert, wie sie es jahrzehntelang der staunenden Fußballwelt vorführte. Mag ihr Stil auch sachlicher, pragmatischer geworden sein – Brasilien ist mit bisher fünf Titeln bei Weltmeisterschaften die erfolgreichste Nation und damit immer ein Kandidat für den Titelgewinn.
Vor diesem Halbfinale beherrschte der Ausfall zweier Spieler auf Seiten der Brasilianer die Diskussion:
1.) Neymar Jr., seines Zeichens wohl der zur Zeit absolut herausragende brasilianische Spieler, war aufgrund eines im Viertelfinale erlittenen Wirbelbruchs bekanntlich nicht einsatzfähig, und
2.) Kapitän Thiago war durch die zweite Gelbe Karte gesperrt.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Seleção in ihren vorangegangenen Partien bei diesem Turnier einen – vornehm ausgedrückt – äußerst physischen Fußball zeigte. Bisher fiel gerade die Auswahl des Gastgebers durch eine Vielzahl von Fouls, insbesondere taktischen Fouls, negativ auf. Mag die Enttäuschung über den verletzungsbedingten Ausfall ihres Superstars, Neymar Jr., auch nachvollziehbar sein, so haftet den diesbezüglichen brasilianischen Klagen in meinen Augen auch etwas äußerst Selbstgerechtes an. Ich erinnere nur an die sieben Fouls der Gastgeber gegen den Star der Kolumbianer, James, im vorangegangenen Viertelfinale.
Vor diesem Halbfinale war also erneut eine hart geführte Partie zwischen beiden Mannschaften zu befürchten. Aus deutscher Sicht musste man daher nicht zuletzt auch aufgrund des Heimvorteils der Gastgeber auf eine gute, tatsächlich neutrale Spielleitung durch das Schiedsrichtergespann hoffen. Gespannt war ich, wie Scolari taktisch auf den Ausfall seines Superstars reagieren würde.
Bundestrainer Löw entschied sich für diese Aufstellung: Neuer – Lahm, Boateng, Hummels, Höwedes – Schweinsteiger, Khedira, Müller, Kroos, Özil – Klose
Löw schickte die Deutsche Mannschaft also in exakt derselben Aufstellung wie im schon gegen die Équipe tricolore in die Begegnung gegen den Rekord-Titelträger und Gastgeber dieser Weltmeisterschaft.
Spielbericht: Brasiliens Trainer, Scolari, setzte zu Beginn auf ein klares 4-2-3-1. Offenbar war er von den bisherigen Leistungen der deutschen Auswahl durchaus beeindruckt, denn er opferte seinen offensiv starken Achter, Paulinho zugunsten eines zweiten Sechsers. Mit den beiden Sechsern, Luiz Gustavo und Fernandinho wollte er das Zentrum schließen und der nach der Sperre des Abwehrchefs, Thiago Silva, neuformierten brasilianischen Defensive mehr Stabilität verleihen. Aus einer stabilen defensiven Grundordnung überfallartig die Deutsche Mannschaft unter Druck setzen, das war wohl sein Plan.
Schon in den vorangegangenen Partien der Brasilianer war zu beobachten, dass die Seleção ihren Gegnern immer wieder kleinere Räume anbot. Die Mannschaft wirkte gelegentlich nicht geschlossen, sondern als bestünde sie aus zwei Teilen: Der Defensive und der Abteilung Attacke. Zwar rückten die beiden Außenverteidiger bei eigenem Ballbesitz auf und ein und dienten so als zusätzliche Anspielstationen, doch grundsätzlich blieben sie im Offensivspiel eher passiv. Auf der anderen Seite wirbelte ihr Offensivpersonal, das nach vorne alle Freiheiten zu besitzen schien, inklusive Offensivpressing, das sich aber nicht immer mit letzter Konsequenz an der Verteidigungsarbeit beteiligte. Dass sich dies nicht bereits früher für sie im Turnier negativ auswirkte, lag m.E. an drei Faktoren:
1.) die Brasilianer konnten, da bisher von den Schiedsrichtern toleriert, das schnelle Umschaltspiel ihrer jeweiligen Gegner mit vielen kleinen und größeren, auch taktischen Fouls bereits im Ansatz unterbinden;
2.) Auch wenn sich beide angesprochenen Mannschaftsteile (s.o.) oft nur unzureichend unterstützten, so standen sie doch meist geordnet und eng beieinander.
3.) mit individueller Klasse konnten mannschaftstaktische Defizite kaschiert werden.
Löw setzte dagegen auf eine fluide Mischung aus 4-3-3 und 4-2-3-1. Im Mittelfeld agierte Schweinsteiger als defensiv absichernder Sechser, während der nominell zweite Sechser, Khedira, bei eigenem Ballbesitz zusammen mit Kroos die eigenen Angriffsbemühungen ankurbelte und regelmäßig im Achterraum auftauchte. Regelmäßig unterstützte er auch Müller und Lahm auf dem rechten Flügel und half so, diese Seite personell zu überladen.
Der Neymar-Ersatz der Brasilianer, Bernard, begann zunächst wider Erwarten auf der rechten Außenbahn, während Hulk die Neymar-Position auf dem linken Flügel einnahm. Nachdem sich diese kleine taktische Überraschung jedoch nicht wirklich ausgewirkt hatte, wechselten beide nach ca. einer halben Stunde die Seiten.
Die deutsche Elf begann taktisch sehr diszipliniert und stand in der Defensive etwas tiefer als in den vorangegangenen Partien. Offenbar wollte man sich von dem gerade zu Beginn erwarteten Angriffswirbel der Gastgeber vor ihrem heimischen Publikum nicht überraschen lassen und ein frühes Gegentor verhindern.
Die Brasilianer versuchten am Anfang, mit aggressivem Offensivpressing zu Ballgewinnen und eigenen Torchancen zu kommen, doch die deutschen Spieler konnten sich dank ihrer individuellen und mannschafstaktischen Klasse immer wieder auch unter Druck befreien und ihrerseits eigene Angriffe starten.
In der 11. Spielminute führte so ein schneller Gegenzug über Khedira und Müller auf der rechten Außenbahn zu einer Ecke für die deutsche Mannschaft. Kroos schlug den Eckstoß halbhoch in den Strafraum. Der Ball segelte an „Freund und Feind“ vorbei. Müller am langen Pfosten bedankte sich und versenkte diese Vorlage volley zur frühen Führung. Das 0:1 für Deutschland.
Mannschaft und Publikum Brasiliens wirkten vom frühen Rückstand konsterniert. Noch deutete aber nichts auf das hin, was eine knappe Viertelstunde später folgen sollte.
Sollte es noch Zweifel an der eigenen Überlegenheit gegeben haben, so kam die deutsche Auswahl mit der Führung im Rücken zunehmend besser ins Spiel. Sie begann nun, mit fast schon chirurgischer Präzision die Schwächen ihres Gegners zu nutzen. Mit jeder gelungenen Aktion stieg die eigene Zuversicht und man spielte sich von Minute zu Minute zunehmend in einen Rausch (Ich erinnere in diesem Zusammenhang an meine Ausführungen zum Stichwort „Flow“), d.h. sie bewegte sich leistungsmäßig am Optimum.
In der 23. Spielminute konnten Müller und Klose auf einen feinen vertikalen Pass von Kroos im Strafraum des Gegners kombinieren. Kloses ersten Torschuss konnte César im Tor der Brasilianer noch parieren, gegen seinen Nachschuss war er jedoch dann machtlos. Das 0:2 für die deutsche Elf. Wie sich zeigen sollte, war diese Erhöhung des Rückstandes aus Sicht der Seleção der mentale Genickbruch. Sie verlor nun vollkommen die Kontrolle über das Spiel, während gleichzeitig das Spiel der deutsche Mannschaft wirkte, als würde man lediglich ein Trainingsspiel gegen einen x-beliebigen unterklassigen Sparringspartner bestreiten. Folge all dessen waren furiose sechs Minuten, wie man sie wohl kaum je auf diesem Niveau bei einer Weltmeisterschaft gesehen haben dürfte.
Das Spiel war gerade wieder angepfiffen, da zappelte der Ball erneut im Netz der Brasilianer. Und das kam so: Lahm passte von der rechten Außenbahn diagonal quer zu Kroos. Dieser schloss von der Strafraumgrenze sofort flach ab. Das 0:3 in der 24. Minute.
Ausdruck der völlig verlorengegangenen Übersicht bei den Brasilianern war die Entstehungsgeschichte des nur zwei Minuten später folgenden Treffers für Deutschland. Fernandinho wurde der Ball aus der eigenen Abwehr von Dante zugespielt. Bevor Fernandinho den Ball jedoch verarbeiten konnte, spritzte Kroos in seinem Rücken heran und nahm ihm das Spielgerät vom Fuß. In der Folge spielten Kroos und der mitgelaufene Khedira die Innenverteidigung des Gegners mit einem Doppelpass aus. Am Ende musste Kroos den Ball nur noch einschieben. Das 0:4 (26.) – wie im Training.
Wieder nur drei Minuten später erkannte Deutschlands Innenverteidiger, Hummels, eine Lücke in der Brasilianischen Defensive und lief mit dem Ball weit in deren Spielhälfte. Erneut konnte die Innenverteidigung mit einem Doppelpass, dieses Mal zwischen Özil und Khedira, ausgespielt werden. Das 0:5 durch Khedira in der 29. Spielminute.
Im Grunde war das Spiel da schon längst entschieden. 0:5 gegen Brasilien in einem Halbfinale, das in Brasilien ausgetragen wird – wer hätte das vor der Partie für möglich gehalten?!
Die deutsche Elf schaltete nun, wer will es ihr verdenken?, im Gefühl des sicheren Sieges einen Gang zurück. Die Brasilianer, Mannschaft wie Publikum, wirkten vollkommen fassungslos und waren nur noch darum bemüht, sich ohne weiteres Gegentor irgendwie in die Halbzeitpause zu retten, was ihnen auch gelingen sollte.
Scolari nahm in der Pause einen Doppelwechsel vor. Für den fast vollkommen wirkungslos gebliebenen Hulk kam mit Ramires ein Achter. Und für den neben Luiz Gustavo zweiten Sechser, Fernandinho, mit Paulinho ein weiterer, offensiver und durchaus torgefährlicher Achter.
Zu Beginn der zweiten Spielhälfte schien sich dieser Doppelwechsel zunächst auszuzahlen. Brasilien verstärkte seine Offensivbemühungen. Aber auch die besten Chancen, so etwa die Doppelchance für Paulinho in der 53. Minute, wurden von dem gewohnt sicheren und aufmerksamen Neuer im Tor der Deutschen pariert. Diese stärkere Phase der Brasilianer war aus meiner Sicht aber vor allem Folge der Tatsache, dass die Deutsche Elf mit der haushohen eigenen Führung im Rücken kurzfristig ein ganz klein wenig die Zügel schleifen ließ.
Löw reagierte darauf seinerseits und brachte mit Edeljoker Schürrle (für Klose) eine frische Offensivkraft.
Der Rest ist im Grunde schnell erzählt. Lahm passte auf Schürrle. Das 0:6 (69.). In der siebzigsten Minute erlöste Scolari den vom heimischen Publikum ungeliebten Mittelstürmer, Fred, der als Sündenbock für die Anhänger der Seleção herhalten musste und bei jedem Ballkontakt von ihnen ausgepfiffen worden war. Bei allem Verständnis für die Enttäuschung des Publikums ist für mich ein derartiges Verhalten, einen Spieler des eigenen Teams derart zu schmähen (kann man leider gelegentlich auch beim HSV beobachten) absolut inakzeptabel.
In der 77. Minute kam für die deutsche Elf Draxler für den dieses Mal großartig aufgelegten Khedira ins Spiel.
Zwei Minuten später zog Müller auf dem rechten Flügel auf und davon. Sein Rückpass erreichte Schürrle, der den Ball humorlos aus spitzem Winkel unter die Latte des von César gehüteten Gehäuses drosch. Das 0:7 (79.)
Özil hätte das Ergebnis nach feinem Pass von Draxler sogar noch ausbauen können, sein Schuss verfehlte aber knapp das Tor.
Der Ehrentreffer für Brasilien fiel praktisch im Gegenzug. Oscar kreuzte klug den Laufweg des von seinen Vorderleuten im Stich gelassenen Boateng und traf in der Nachspielzeit (90+1.) zum 1:7.
Schiedsrichter: Marco Rodriguez (Mexiko). Gut. Beruhigte die Gemüter bei einer Rudelbildung und kam weitestgehend ohne Karten aus, ohne dass ihm deswegen das Spiel entglitt. Fiel auch nicht auf diverse Schwalben der Brasilianer herein.
Fazit: Ein hochverdienter, historisch zu nennender Sieg der deutschen Nationalmannschaft, die in allen Belangen überlegen wirkte. Die deutsche Mannschaft steht damit erneut in einem Finale um den Weltmeistertitel. Herzlichen Glückwunsch!
Klose ist nunmehr Rekordtorschütze bei Endrunden um die Weltmeisterschaft. Auch dies ist etwas, was in die Geschichtsbücher des Fußballs eingehen wird. Auch dazu Gratulation!
Ich hoffe, dass nun endlich auch diejenigen Ruhe geben, die meinen, Löw habe keine Ahnung oder sollte z.B. auf Özil verzichten. Aus einer großartig aufspielenden Mannschaft ragten für mich noch etwas Neuer, Hummels, Khedira, Kroos, Müller und Schürrle heraus, was aber die Leistung aller anderen Beteiligten nicht schmälern soll. Auch der oft kritisierte Höwedes lieferte eine überzeugende Leistung ab. Das sollte man auch einmal festhalten.
Es ist noch nicht so lange her, da „mogelte „sich die deutsche Mannschaft regelmäßig bis ins Finale einer WM. Den schönen Fußball zeigten regelmäßig andere Mannschaften. Auch dank der Arbeit von Klinsmann und Löw spielt die Mannschaft inzwischen seit Jahren einen Fußball, der auf der ganzen Welt nicht nur respektiert, sondern z.T. sogar bewundert wird. Dass es nicht immer gelingt, jeden Gegner an die Wand zu spielen, dass gelegentlich auch schwächere Spiele wie gegen Algerien abgeliefert werden, ist m.E. völlig normal. Das gestrige Spiel hat aber eindrucksvoll gezeigt, wozu die Mannschaft grundsätzlich in der Lage ist, wenn sie nahe an ihr absolutes Leistungsmaximum kommt. Ich hoffe sehr, dass ungeachtet des Ausgangs des nun erreichten Finales diese grundsätzlich positive Entwicklung nachhaltig gewürdigt wird. Es ist aus meiner Sicht auch ein Verdienst beider Trainer, dass man im Ausland inzwischen die technischen und spielerischen Qualitäten der Deutschen würdigt, anstatt das Klischee vom kraftstrotzenden deutschen Panzer zu assoziieren.
Das Ergebnis des Spiels entspricht nicht dem tatsächlichen generellen Leistungsabstand zwischen den beiden beteiligten Mannschaften. Es für mich vor allem das Resultat zweier Faktoren:
Die deutsche Elf erreichte in diesem Spiel den „Flow“, die Auswahl Brasiliens zerbrach an der Last der hohen Erwartungen. Sowohl der eigenen als auch der eines ganzen Volkes.
Erneut zeigte sich, dass die Löw-Truppe eine in jeder Hinsicht gereifte Mannschaft ist. Auch wenn das folgende Finale vermutlich ein ganz anderes Spiel sein wird, blicke ich dieser Partie mit Zuversicht entgegen. Diesem deutschen Team ist sowohl gegen Argentinien als auch gegen die Niederlande der Titelgewinn zuzutrauen. Aber dafür braucht man auch (wie immer) das nötige Glück. Hoffen wir, dass der große Wurf gelingt. Verdient hätte es die Mannschaft.
Als ich vor ein paar Tagen schrieb, wir würden wohl ein Spiel wie gegen Algerien erleben, ohne daß die Brasilianer so gut organisiert wären wie die Algerier, hätte ich mir einen solchen Kantersieg – zugegeben – auch in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Du bringst sehr gut auf den Punkt, wie geradezu „mit chirurgischer Präzision“ diese fehlende Organisation im Spiel Brasliens offen gelegt wurde.
Das gilt – im eigentlichen Sinn – allerdings „nur“ für die Angriffe der deutschen Mannschaft bis zum 2:0.Die 3 Tore bis zum 5:0 sind, wie Du schreibst, eher psychologisch als spielerisch zu erklären. Brasiliens Spieler schienen mental nicht mehr auf dem Platz zu sein, da ihnen nach dem 2:0 wohl schon klar wurde, daß dieser Abend nicht mit einem Sieg für sie enden würde. Sie reagierten panisch und nur noch reflexhaft, was sie – fast – wie eine Jugendmannschaft agieren ließ.
In der 2. Halbzeit zeigte die deutsche Mannschaft dann gegenüber einer mental und organisatorisch etwas verbesserten brasilianischen Mannschaft, daß sie – natürlich auch mit dem 5:0 im Rücken und dank Neuers erneut souveränem Auftritt – an diesem Abend von Brasilien nicht in wirkliche Verlegenheit zu bringen war, und das trotz der unbestreitbaren individuellen Klasse der brasilianischen Spieler. Für mich war in einer tollen Mannschaft vor allem das Mittelfeld mit Khedira, Schweinsteiger und Kroos überragend in ihren abgestimmten Bewegungen und – endlich ‚mal wieder, wenn sie denn den Platz bekommen – vertikalem Kombinationsspiel.
Meine Gefühle zu dem Spiel kann ich noch gar nicht richtig einordnen, da Sprachlosigkeit die Freude überwiegt und sich auch eine gewisse Scham dazu mischt. Brasilien und Deutschland sind sich in der „Fußballwelt“ nach meinen Eindrücken bei aller konkreten Rivalität in einem Spiel stets wohlgesonnen gewesen, getragen von dem gegenseitigen Respekt ggü. dem – über die Jahrzehnte gesehen – wohl erfolgreichsten Team des jeweiligen Kontinents. Im heimischen WM-Turnier im Halbfinale dem Gastgeber eine solche Demütigung zuzufügen, ist – vorsichtig formuliert – kein freund(schaft)licher Akt, wie man es auch dreht und wendet.
Oder anders formuliert: Hätte Deutschland z.B. in einem gedachten Viertelfinale gegen Italien (bei einem WM-Turnier in z.B. Südamerika) solch ein Ergebnis erzielt, wäre meine Freude in Anbetracht der vielen schmerzenden Niederlagen, die uns Italien durchgehend seit 1970 „zugefügt“ hat, vollkommen ungetrübt gewesen. Gegen Brasilien – und dann noch im Halbfinale der WM zu Hause – ist sie es nicht. Daher habe ich mich besonders über die vielen Szenen nach Abpfiff gefreut, in denen – gefühlt – alle deutschen Spieler inkl. Ersatzspieler versucht haben, ihre brasilianischen „Kollegen“ zu trösten. DAS war richtig große Klasse!
Du triffst meine Gefühlslage, was sowohl die Höhe des Ergebnisses als auch die Art und Weise seines Zustandekommens angeht. Nach anfänglicher Freude war ich zunehmend fassungslos angesichts dessen, wass sich da vor aller Augen abspielte. Irgendwann dominierte dann das Mitgefühl. Zugleich ist dieses psychologische Element auch der Grund, warum ich die Tore hier wieder ausführlicher dargestellt habe. Eine ernsthafte Analyse der taktischen Defizite erschien mir ab einem bestimmten Moment ob der Vielzahl der Fehler verzichtbar. In den sechs Minuten gab es nur eins festzustellen: Totale Konfusion und nackte Panik.
Mir hat Brasilien eigentlich nicht leid getan. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie sie sich verhalten hätten, wenn sie 7:1 gewonnen hätten. Dennoch finde ich es gut, wie sich die deutschen Spieler um die Brasilianer gekümmert haben und auch, wie sie sie getröstet haben.
Zum Spiel selbst gebe ich Euch recht. Auch der Kommentar von Felix M. geht in die Richtung. Er schreibt, dass die brasilianischen Fußballspieler zur Höchstform auflaufen, wenn die eigene Mannschaft führt und andererseits aber selten oder nie in der Lage sind aufzustehen und zu kämpfen, wenn die Mannschaft im Rückstand ist.
Nachdem in diesem Spiel nun nahezu alles, was sie geglaubt hatten, nachdem sie es sich eingeredet haben, bzw einreden ließen, nicht eintraf, schwammen ihnen „die Fälle weg“ und sie wußten lange nicht, was zu tun war.
Das Endspiel wird sicher schwer. Die Argentinier sind abwehrstark. Im Angriff mangelt es jedoch. Der vielgerühmte Messi würde in jeder Bundesligamannschaft die Spiele auf der Tribüne verbringen. Manch Geldschrank bewegt sich mehr als er.
Wo kann man die Laufleistung der einzelnen Spieler nachlesen?
Bei Bundesligaspielen findest Du die s.g. Tracking-Daten inklusive Laufleistungen u.a. auf Bundesliga.de. Für das Spiel NED-ARG habe ich zwar einige Daten gefunden, aber die von Dir erfragten Laufleistungen waren nicht dabei. Ich kann Dir also leider nicht helfen. Vielleicht findet man sie irgendwo auf einer FIFA-Seite.
Hier findet man eine Statistik Argentinien : Deutschland. Spieler gegen Spieler:
http://www.focus.de/sport/fussball/wm-2014/wm-deutschland-und-argentinien-im-vergleich-mann-gegen-mann-zusammengestellt-vom-sid_id_3981352.html
Ich finde diese Statistiken überaus interessant. Nicht nur bezogen auf Messi. Auch und gerade die Anzahl der gespielten Pässe und die Fehlerquote dabei.
Vielen Dank an oldiehamburg für diesen Hinweis. Die Statistik zeigt einmal mehr, daß z.B. Özil – hinter Mats Hummel(!) – der sprintschnellste Spieler der deutschen – zugegebenermaßen relativ langsamen – Mannschaft ist. Aber man frage einmal an dem vielzitierten Stammtisch, wer die schnellsten Spieler Deutschlands sind, und man wird wohl in den wenigsten Fällen gerade diese beiden oder auch Boateng genannt bekommen, weil ihr Laufstil eben nicht so aussieht.
Vergleicht man z.B. Özil einmal mit Shaqiri, so würde man auf den ersten Eindruck denken, daß Shaqiri schneller ist, weil er kleine energische Schritte macht und dadurch „schnell“ wirkt. Ist aber mitnichten so. Özils Laufstil hat viel längere „Flugzeiten“ und sieht deswegen manchmal so unangestrengt aus, aber er ist dabei deutlich schneller.
Überhaupt ist zu bedauern, wie oberflächlich z.T. über die Spieler geurteilt wird, bzw. wie sehr sich der normale Betrachter von der Körpersprache beeinflussen läßt. Diesbezüglich ist ja auch Toni Kroos oft zu Unrecht als „pomadig“, etc. verunglimpft worden. Zum Glück hat er in diesem Turnier wohl auch den letzten Zweifler eines besseren belehrt, und Bayern München muß sich ernsthaft die Frage gefallen lassen, wieso um alles in der Welt sie einen solchen Mittelfeldstar abgeben – der sich m.E . eigentlich immer nur nach der Anerkennung sehnte, die er jetzt durch den Wechsel zu Real Madrid zu erhalten scheint – und das auch noch für vergleichbar „lächerliche“ – gemessen an vielen anderen Transfers – € 28 Mio. Da hat sich der FCB m.E. von ihrem unbestreitbar tollen Trainer einen super Spieler abspenstig machen lassen. T. Kroos wollte doch nicht mehr, als das gleiche Geld zu verdienen, wie z.B. Mario Götze, der 3mal (!!) so viel Gehalt bekommt wie Toni Kroos (man vergleiche die beiden einmal bei dieser WM, aber auch im letzten Jahr bei Bayern).
Der Vorwurf, dass ein Spieler zu langsam sei, der wird ja immer gerne erhoben. Auch beim HSV. Beispiele: Diekmeier? Zu langsam. Westermann? Zu langsam. Arslan? Auch zu langsam. usw. usf. Ärgerlich daran finde ich, dass die objektiven Daten z.T. belegen, dass diese Spieler durchaus antritts- und über die Distanz sprintschnell sind. Interessiert aber nicht, wenn man einen Blitzableiter benötigt.
Özil bspw. ist neben Kroos in der N11 der Mann für den vorletzten und letzten Pass, aber eben kein Torjäger. Wenn der also z.B. das 8:0 vergibt, dann heißt es wieder: „typisch, dieser Özil. Kein Temperament (= kein Einsatz), zu langsam und Tore schießt der auch nicht, diese Lusche!“
Früher wurden gar keine Tracking-Daten zur Verfügung gestellt. Heute redet jeder über diese Daten, als wäre allein mit den (Roh-)Daten etwas zu beweisen. So einfach ist es aber nicht! Man müsste zum Beispiel den generellen Spielstil (Ballbesitz-Fußball oder nicht), die taktische Ausgangslage (musste die Mannnschaft eine Führung aufholen, oder konnte sie die meiste Zeit hinten drin stehen und auf Konter lauern), sowie etwaige taktische Einzelanweisungen durch den Trainer (möglicherweise soll ein Stürmer ja vorne stehen bleiben und zocken) einbeziehen und sachgerecht gewichten können, wollte man wirklich zu validen Schlussfolgerungen kommen.
Wieder einmal vollkommen einig! Wie Du ja weißt, freue ich mich sehr, daß sich Löw auch in der „causa“ Özil bisher nicht hat beirren lassen. Wenn man sich die Spiele Deutschlands ein 2. Mal ansieht und speziell darauf achtet, erkennt man, daß Özil – gefühlt – an der Hälfte aller Aktionen unmittelbar beteiligt war, die dann zu einem Tor führten. Natürlich könnte er sein Talent noch besser einbringen, wenn er zentral spielen dürfte, was aber im jetzigen deutschen System nicht paßt. Obwohl er also fast der Hälfte seiner Optionen beraubt ist, ist er immer noch unglaublich wichtig für diese Mannschaft. Gerade daran, daß sein Paß oft „nur“ der vorletzte oder gar dritt- oder viertletzte war, kann man m.,E. erkennen, daß er wie ein guter Schachspieler sehr weit voraus antizipieren kann, was erfolgsversprechend sein KÖNNTE. Und das, obwohl er unbestreitbar nicht einmal in Topform ist.
Zu den Daten bin ich ebenfalls einig mit Dir. Ich habe sie vorstehend auch nur benutzt, um mal mit einigen Vorurteilen aufzuräumen.Viel wichtiger sind das Konzept und die sich daraus ergebenden Wechselwirkungen. Deswegen spielt die deutsche Mannnschaft als eher langsame Mannschaft ja auch den Ballbesitzfußball und ihr Umschaltspiel ist in den besten Momenten „nur“ wegen der guten Staffelung schnell, da auf dem Platz nichts scheller ist als der fliegende Ball.
@Detzer’72
Dann schau Dir doch einmal die Amzahl der Päße und die Fehlerquote bei Özil und vergleiche sie mit anderen, angeblich besseren, Spielern.
@ oldiekamburg
Bin jetzt nicht ganz sicher, wie ich diese Aufforderung verstehen soll. Ohne noch einmal Referenz genommen zu haben, erinnere ich, daß seine Passquote fast immer Spitze ist, was ja auch u.a. meine These seines Wertes untermauert. Vor allem, wenn man bedenkt, daß er überwiegend im einem Bereich des Feldes seine Pässe spielt, in denen Risikopässe erwünscht sind, und nicht, wie etwa oft die Innenverteidiger jede Menge simple Querpässe mit einschließt, die die Statistik zu deren Gunsten verschieben.
Beziehst Du Dich aber auf meinen letzten Halbsatz im ersten Absatz, so möchte ich gern erklären, daß ich Özil – trotz meines Lobes für ihn – schon NOCH besser erlebt habe als bei dieser WM. Oder anders formuliert, mir ist ein Özil ohne Bestform immer noch sehr viel lieber, bzw. auch wichtiger für das Spiel, als so manch anderer Spieler (wobei ich momentan an niemandem groß ‚was zu mäkeln hätte).
@Detzer’72
Nee, eigentlich wollte ich lediglich zaghaft darauf hinweisen, dass du mehr als recht hast. Ich finde nicht nur die Quote der angekommenden Päße toll, ich finde das insbesondere aufgrund der sehr hohen Anzahl der Päße in der, von dir beschriebenen besonderen Situation.
Mit anderen Worten, ich sehe das wie du.
Finde ich wirklich klasse, daß zumindest wir drei, die wir hier z. Zt. schreiben, insoweit der gleichen Meinung sind! Hat man m.E. auch nicht so oft.