Mertesacker

Mit einem historischen Sieg ins Finale: Brasilien – Deutschland 1:7 (0:5)

Entschuldigt bitte, dass der Artikel zum Spiel heute etwas später kommt, aber ich wollte mir das, was da gestern in Belo Horizonte geschehen ist, noch einmal in voller Länge anschauen. So etwas erlebt man schließlich nicht alle Tage.

Brasilien galt lange Jahre als das Maß aller Dinge im Weltfußball. Jedenfalls wenn man an die Vielzahl der wirklichen Ausnahmekönner denkt, die dieses Land hervorgebracht hat. Pelé, Garrincha, Falcão (gemeint ist Paulo Roberto Falcão), Sócrates und Zico sind Namen, die wohl jedem ernsthaften Fußballfan geläufig sind. Das Reservoir an Talenten in Brasilien schien lange Zeit nahezu unerschöpflich. Bis heute  findet man Profis aus Brasilien in praktisch allen bedeutenden Ligen rund um den Globus.

Ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Seleção ist immer etwas besonderes, zumal wenn man im Halbfinale einer Weltmeisterschaft in Brasilien aufeinander trifft. Auch wenn die Seleção inzwischen längst nicht mehr derart zaubert, wie sie es jahrzehntelang der staunenden Fußballwelt vorführte. Mag ihr Stil auch sachlicher, pragmatischer geworden sein – Brasilien ist mit bisher fünf Titeln bei Weltmeisterschaften die erfolgreichste Nation und damit immer ein Kandidat für den Titelgewinn.

Vor diesem Halbfinale beherrschte der Ausfall zweier Spieler auf Seiten der Brasilianer die Diskussion:

1.) Neymar Jr., seines Zeichens wohl der zur Zeit absolut herausragende brasilianische Spieler, war aufgrund eines im Viertelfinale erlittenen Wirbelbruchs bekanntlich nicht einsatzfähig, und
2.) Kapitän Thiago war durch die zweite Gelbe Karte gesperrt.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Seleção in ihren vorangegangenen Partien bei diesem Turnier einen – vornehm ausgedrückt – äußerst physischen Fußball zeigte. Bisher fiel gerade die Auswahl des Gastgebers durch eine Vielzahl von Fouls, insbesondere taktischen Fouls, negativ auf. Mag die Enttäuschung über den verletzungsbedingten Ausfall ihres Superstars, Neymar Jr., auch nachvollziehbar sein, so haftet den diesbezüglichen brasilianischen Klagen in meinen Augen auch etwas äußerst Selbstgerechtes an. Ich erinnere nur an die sieben Fouls der Gastgeber gegen den Star der Kolumbianer, James, im vorangegangenen Viertelfinale.

Vor diesem Halbfinale war also erneut eine hart geführte Partie zwischen beiden Mannschaften zu befürchten. Aus deutscher Sicht musste man daher nicht zuletzt auch aufgrund des Heimvorteils der Gastgeber auf eine gute, tatsächlich neutrale Spielleitung durch das Schiedsrichtergespann hoffen. Gespannt war ich, wie Scolari taktisch auf den Ausfall seines Superstars reagieren würde.

Bundestrainer Löw entschied sich für diese Aufstellung: Neuer – Lahm, Boateng, Hummels, Höwedes – Schweinsteiger, Khedira, Müller, Kroos, Özil – Klose
Löw schickte die Deutsche Mannschaft also in exakt derselben Aufstellung wie im schon gegen die Équipe tricolore in die Begegnung gegen den Rekord-Titelträger und Gastgeber dieser Weltmeisterschaft.

Spielbericht: Brasiliens Trainer, Scolari, setzte zu Beginn auf ein klares 4-2-3-1. Offenbar war er von den bisherigen Leistungen der deutschen Auswahl durchaus beeindruckt, denn er opferte seinen offensiv starken Achter, Paulinho zugunsten eines zweiten Sechsers. Mit den beiden Sechsern, Luiz Gustavo und Fernandinho wollte er das Zentrum schließen und der nach der Sperre des Abwehrchefs, Thiago Silva, neuformierten brasilianischen Defensive mehr Stabilität verleihen. Aus einer stabilen defensiven Grundordnung überfallartig die Deutsche Mannschaft unter Druck setzen, das war wohl sein Plan.

Schon in den vorangegangenen Partien der Brasilianer war zu beobachten, dass die Seleção ihren Gegnern immer wieder kleinere Räume anbot. Die Mannschaft wirkte gelegentlich nicht geschlossen, sondern als bestünde sie aus zwei Teilen: Der Defensive und der Abteilung Attacke. Zwar rückten die beiden Außenverteidiger bei eigenem Ballbesitz auf und ein und dienten so als zusätzliche Anspielstationen, doch grundsätzlich blieben sie im Offensivspiel eher passiv. Auf der anderen Seite wirbelte ihr Offensivpersonal, das nach vorne alle Freiheiten zu besitzen schien, inklusive Offensivpressing, das sich aber nicht immer mit letzter Konsequenz an der Verteidigungsarbeit beteiligte. Dass sich dies nicht bereits früher für sie  im Turnier negativ auswirkte, lag m.E. an drei Faktoren:

 

1.) die Brasilianer konnten, da bisher von den Schiedsrichtern toleriert, das schnelle Umschaltspiel ihrer jeweiligen Gegner mit vielen kleinen und größeren, auch taktischen Fouls bereits im Ansatz unterbinden;

2.) Auch wenn sich beide angesprochenen Mannschaftsteile (s.o.) oft nur unzureichend unterstützten, so standen sie doch meist geordnet und eng beieinander.

3.) mit individueller Klasse konnten mannschaftstaktische Defizite kaschiert werden.

 

Löw setzte dagegen auf eine fluide Mischung aus 4-3-3 und  4-2-3-1. Im Mittelfeld agierte Schweinsteiger als defensiv absichernder Sechser, während der nominell zweite Sechser, Khedira, bei eigenem Ballbesitz zusammen mit Kroos die eigenen Angriffsbemühungen ankurbelte und regelmäßig im Achterraum auftauchte. Regelmäßig unterstützte er auch  Müller und Lahm auf dem rechten Flügel und half so, diese Seite personell zu überladen.

Der Neymar-Ersatz der Brasilianer, Bernard, begann zunächst wider Erwarten auf der rechten Außenbahn, während Hulk die Neymar-Position auf dem linken Flügel einnahm. Nachdem sich diese kleine taktische Überraschung  jedoch nicht wirklich ausgewirkt hatte, wechselten beide nach ca. einer halben Stunde die Seiten.

Die deutsche Elf begann taktisch sehr diszipliniert und stand in der Defensive etwas tiefer als in den vorangegangenen Partien. Offenbar wollte man sich von dem gerade zu Beginn erwarteten Angriffswirbel der Gastgeber vor ihrem heimischen Publikum nicht überraschen lassen und ein frühes Gegentor verhindern.

Die Brasilianer versuchten am Anfang, mit aggressivem Offensivpressing zu Ballgewinnen und eigenen Torchancen zu kommen, doch die deutschen Spieler konnten sich dank ihrer individuellen und mannschafstaktischen Klasse immer wieder auch unter Druck befreien und ihrerseits eigene Angriffe starten.

In der 11. Spielminute führte so ein schneller Gegenzug über Khedira und Müller auf der rechten Außenbahn zu einer Ecke für die deutsche Mannschaft. Kroos schlug den Eckstoß halbhoch in den Strafraum. Der Ball segelte an „Freund und Feind“ vorbei. Müller am langen Pfosten bedankte sich und versenkte diese Vorlage volley zur frühen Führung. Das 0:1 für Deutschland.

Mannschaft und Publikum Brasiliens wirkten vom frühen Rückstand konsterniert. Noch deutete aber nichts auf das hin, was eine knappe Viertelstunde später folgen sollte.

Sollte es noch Zweifel an der eigenen Überlegenheit gegeben haben, so kam die deutsche Auswahl mit der Führung im Rücken zunehmend besser ins Spiel. Sie begann nun, mit fast schon chirurgischer Präzision die Schwächen ihres Gegners zu nutzen. Mit jeder gelungenen Aktion stieg die eigene Zuversicht und man spielte sich von Minute zu Minute zunehmend in einen Rausch (Ich erinnere in diesem Zusammenhang an meine Ausführungen zum Stichwort „Flow“), d.h. sie bewegte sich leistungsmäßig am Optimum.

In der 23. Spielminute konnten Müller und Klose auf einen feinen vertikalen Pass von Kroos im Strafraum des Gegners kombinieren. Kloses ersten Torschuss konnte César im Tor der Brasilianer noch parieren, gegen seinen Nachschuss war er jedoch dann machtlos. Das 0:2 für die deutsche Elf.  Wie sich zeigen sollte, war diese Erhöhung des Rückstandes aus Sicht der Seleção der mentale Genickbruch. Sie verlor nun vollkommen die Kontrolle über das Spiel, während gleichzeitig das Spiel der deutsche Mannschaft wirkte, als würde man lediglich ein Trainingsspiel gegen einen x-beliebigen unterklassigen Sparringspartner bestreiten. Folge all dessen waren furiose sechs Minuten, wie man sie wohl kaum je auf diesem Niveau bei einer Weltmeisterschaft gesehen haben dürfte.

Das Spiel war gerade wieder angepfiffen, da zappelte der Ball erneut im Netz der Brasilianer. Und das kam so: Lahm passte von der rechten Außenbahn diagonal quer zu Kroos. Dieser schloss von der Strafraumgrenze sofort flach ab. Das 0:3 in der 24. Minute.

Ausdruck der völlig verlorengegangenen Übersicht bei den Brasilianern war die Entstehungsgeschichte des nur zwei Minuten später folgenden Treffers für Deutschland. Fernandinho wurde der Ball aus der eigenen Abwehr von Dante zugespielt. Bevor Fernandinho den Ball jedoch verarbeiten konnte, spritzte Kroos in seinem Rücken heran und nahm ihm das Spielgerät vom Fuß. In der Folge spielten Kroos und der mitgelaufene Khedira die Innenverteidigung des Gegners mit einem Doppelpass aus. Am Ende musste Kroos den Ball nur noch einschieben. Das 0:4 (26.) – wie im Training.

Wieder nur drei Minuten später erkannte Deutschlands Innenverteidiger, Hummels, eine Lücke in der Brasilianischen Defensive und lief mit dem Ball weit in deren Spielhälfte. Erneut konnte die Innenverteidigung mit einem Doppelpass, dieses Mal  zwischen Özil und Khedira,  ausgespielt werden. Das 0:5 durch Khedira in der 29. Spielminute.

Im Grunde war das Spiel da schon längst entschieden. 0:5 gegen Brasilien in einem Halbfinale, das in Brasilien ausgetragen wird – wer hätte das vor der Partie für möglich gehalten?!

Die deutsche Elf schaltete nun, wer will es ihr verdenken?, im Gefühl des sicheren Sieges einen Gang zurück. Die Brasilianer, Mannschaft wie Publikum, wirkten vollkommen fassungslos und waren nur noch darum bemüht, sich ohne weiteres Gegentor irgendwie in die Halbzeitpause zu retten, was ihnen auch gelingen sollte.

Scolari nahm in der Pause einen Doppelwechsel vor. Für den  fast vollkommen wirkungslos gebliebenen Hulk kam mit Ramires ein Achter. Und für den neben Luiz Gustavo zweiten Sechser, Fernandinho, mit Paulinho  ein weiterer, offensiver  und durchaus torgefährlicher Achter.

Zu Beginn der zweiten Spielhälfte schien sich dieser Doppelwechsel zunächst auszuzahlen. Brasilien verstärkte seine Offensivbemühungen. Aber auch die besten Chancen, so etwa die Doppelchance für Paulinho in der 53. Minute, wurden von dem gewohnt sicheren und aufmerksamen Neuer im Tor der Deutschen pariert. Diese stärkere Phase der Brasilianer war aus meiner Sicht aber vor allem Folge der Tatsache, dass die Deutsche Elf mit der haushohen eigenen Führung im Rücken kurzfristig ein ganz klein wenig die Zügel schleifen ließ.

Löw reagierte darauf seinerseits und brachte mit Edeljoker Schürrle (für Klose) eine frische Offensivkraft.

Der Rest ist im Grunde schnell erzählt. Lahm passte auf Schürrle. Das 0:6 (69.). In der siebzigsten Minute erlöste Scolari den vom heimischen Publikum ungeliebten Mittelstürmer, Fred, der als Sündenbock für die Anhänger der Seleção herhalten musste und bei jedem Ballkontakt von ihnen ausgepfiffen worden war.  Bei allem Verständnis für die Enttäuschung des Publikums ist für mich ein derartiges Verhalten, einen Spieler des eigenen Teams derart zu schmähen (kann man leider gelegentlich auch beim HSV beobachten) absolut inakzeptabel.

In der 77. Minute kam für die deutsche Elf Draxler für den dieses Mal großartig aufgelegten Khedira ins Spiel.

Zwei Minuten später zog Müller auf dem rechten Flügel auf und davon. Sein Rückpass erreichte Schürrle, der den Ball humorlos aus spitzem Winkel unter die Latte des von César gehüteten Gehäuses drosch. Das 0:7 (79.)

Özil hätte das Ergebnis nach feinem Pass von Draxler sogar noch ausbauen können, sein Schuss verfehlte aber knapp das Tor.

Der Ehrentreffer für Brasilien fiel praktisch im Gegenzug. Oscar kreuzte klug den Laufweg des von seinen Vorderleuten im Stich gelassenen Boateng und traf in der Nachspielzeit (90+1.) zum 1:7.

 

Schiedsrichter: Marco Rodriguez (Mexiko). Gut. Beruhigte die Gemüter bei einer Rudelbildung und kam weitestgehend ohne Karten aus, ohne dass ihm deswegen das Spiel entglitt. Fiel auch nicht auf diverse Schwalben der Brasilianer herein.

Fazit: Ein hochverdienter, historisch zu nennender Sieg der deutschen Nationalmannschaft, die in allen Belangen überlegen wirkte. Die deutsche Mannschaft steht damit erneut in einem Finale um den Weltmeistertitel. Herzlichen Glückwunsch!

Klose ist nunmehr Rekordtorschütze bei Endrunden um die Weltmeisterschaft. Auch dies ist etwas, was in die Geschichtsbücher des Fußballs eingehen wird. Auch dazu Gratulation!

Ich hoffe, dass nun endlich auch diejenigen  Ruhe geben, die meinen, Löw habe keine Ahnung oder sollte z.B. auf Özil verzichten. Aus einer großartig aufspielenden  Mannschaft ragten für mich noch etwas Neuer, Hummels, Khedira, Kroos, Müller und Schürrle heraus, was aber die Leistung aller anderen Beteiligten nicht schmälern soll. Auch der oft kritisierte Höwedes lieferte eine überzeugende Leistung ab. Das sollte man auch einmal festhalten.

Es ist noch nicht so lange her, da „mogelte „sich die deutsche Mannschaft regelmäßig bis ins Finale einer WM. Den schönen Fußball zeigten regelmäßig andere Mannschaften. Auch dank der Arbeit von Klinsmann und Löw spielt die Mannschaft inzwischen seit Jahren einen Fußball, der auf der ganzen Welt  nicht nur respektiert, sondern z.T. sogar bewundert wird. Dass es nicht immer gelingt, jeden Gegner an die Wand zu spielen, dass gelegentlich auch schwächere Spiele wie gegen Algerien abgeliefert werden, ist m.E. völlig normal. Das gestrige Spiel hat aber eindrucksvoll gezeigt, wozu die Mannschaft grundsätzlich in der Lage ist, wenn sie nahe an ihr absolutes Leistungsmaximum kommt. Ich hoffe sehr, dass ungeachtet des Ausgangs des nun erreichten Finales diese grundsätzlich positive Entwicklung nachhaltig gewürdigt wird. Es ist aus meiner Sicht auch ein Verdienst beider Trainer, dass man im Ausland inzwischen die technischen und spielerischen Qualitäten der Deutschen würdigt, anstatt das Klischee vom kraftstrotzenden deutschen Panzer zu assoziieren.

Das Ergebnis des Spiels entspricht nicht dem tatsächlichen generellen Leistungsabstand zwischen den beiden beteiligten Mannschaften. Es für mich vor allem das Resultat zweier Faktoren:

Die deutsche Elf erreichte in diesem Spiel den „Flow“, die Auswahl Brasiliens zerbrach an der Last der hohen Erwartungen. Sowohl der eigenen als auch der eines ganzen Volkes.

Erneut zeigte sich, dass die Löw-Truppe eine in jeder Hinsicht gereifte Mannschaft ist. Auch wenn das folgende Finale vermutlich ein ganz anderes Spiel sein wird, blicke ich dieser Partie mit Zuversicht entgegen. Diesem deutschen Team ist sowohl gegen Argentinien als auch gegen die Niederlande der Titelgewinn zuzutrauen. Aber dafür braucht man auch (wie immer) das nötige Glück. Hoffen wir, dass der große Wurf gelingt. Verdient hätte es die Mannschaft.

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Dank engagierter Abwehrleistung ins Halbfinale: Frankreich – Deutschland 0:1 (0:1)

Zuletzt schien es, als ließe sich Bundestrainer Löw von der anhaltenden Diskussion über die Aufstellung seines Teams nicht beirren und hielte unbeirrt an der umstrittenen Nominierung Lahms für das Defensive Mittelfeld fest. Nachdem sich Mustafi im Spiel gegen Algerien verletzt hatte und daher für den Rest des Turniers nicht mehr zur Verfügung steht, nahm diese Diskussion an Heftigkeit zu. Dennoch hatte wohl nicht nur ich erwartet, dass Lahm auch gegen die Franzosen auf der Sechs spielen würde, da Boateng nach der Genesung Hummels als Ersatz für Mustafi auf der rechten defensiven Außenbahn zur Verfügung stand. Offenbar aber hatte Löw für dieses Spiel einen anderen Plan. So fehlte vor Spielbeginn der Name Mertesacker in der Startelf, dessen Planstelle von eben jenem Boateng besetzt wurde. Daraus folgte dann endgültig die Rückkehr – zumindest für diese Partie – zu der mehrheitlich in den Medien favorisierten Aufstellung mit Lahm als Rechtsverteidiger und der Besetzung der Doppelsechs durch Schweinsteiger und Khedira. Löw schickte seine Mannschaft also in der folgenden Aufstellung auf das Feld: Neuer – Lahm, Boateng, Hummels, Höwedes – Schweinsteiger, Khedira, Müller, Kroos (90+2. Kramer),  Özil (83. Götze) – Klose (69. Schürrle)

Ich glaube, dass Löw mit der Neuformierung seiner Abwehrkette keineswegs dem öffentlichen Druck nachgegeben hat, sondern dass es sich hier um eine Anpassung an die quirligen, schnellen Angreifer der Franzosen handelte. Mertesacker besticht durch sein Kopfball- und Stellungsspiel. In der Spieleröffnung wählt er oft den einfachen, risikolosen Pass, wirkt aber in direkten Laufduellen gegen bewegliche Angreifer gelegentlich überfordert. Durch Boateng und vor allem Lahm wurde die Abwehrreihe sowohl läuferisch als auch in Sachen Beweglichkeit für diesen speziellen Gegner m.E. optimiert.

Spielverlauf:  Nach längerer Zeit  begann die Deutsche Nationalmannschaft also wieder eine Begegnung in der (früher) gewohnten Rollenverteilung, also mit Lahm als Rechtsverteidiger, dem Duo Schweinsteiger/Khedira auf der Doppel-Sechs und Klose als Sturmspitze in einem klaren 4-2-3-1. Bei  eigenem Ballbesitz verschob man erneut in Richtung gegnerische Hälfte, jedoch blieben beide Innenverteidiger in Erwartung von Kontern der Franzosen ein klein wenig defensiver positioniert.

Der Trainer der Franzosen, Deschamps, schickte seine Elf zunächst in einem 4-3-3 auf das Feld. Das Spiel Frankreichs erinnerte mich bei Ballbesitz an das der Deutschen in ihrem Achtelfinale gegen Algerien. Beide Außenverteidiger verschoben sich offensiv in Richtung Mittelfeld, wenngleich sie einen Tick defensiver agierten, als es Mustafi und Höwedes  gegen Algerien getan hatten. Aus dem Mittelfeld ließ sich immer wieder Cabaye zwischen die beiden Innenverteidiger fallen, um das eigene Spiel aufzubauen.

Beide Mannschaften begannen die Begegnung eher verhalten und waren in ihren Aktionen zunächst vor allem auf Sicherheit bedacht.

In der 12. Minute wurde Kroos in der Spielhälfte der Franzosen im linken Halbfeld gefoult. Den fälligen Freistoß flankte der Gefoulte selbst mit Schnitt zum Tor in den Strafraum des Gegners. Hummels konnte sich seinen Gegenspieler erfolgreich vom Leib halten und verwandelte diese Vorlage per Kopf rechts oben unter die Latte zur frühen 0:1-Führung für Deutschland.

Mit der Führung im Rücken überließ die Deutsche Elf dem Gegner meist ungestört den eigenen Spielaufbau. Wenn im vorderen Drittel ein ballführender,  französischer Abwehrspieler angelaufen wurde, dann nicht mit letzter Konsequenz, sondern nur um das Aufbauspiel des Gegners zu lenken. Tatsächlich presste man die Franzosen erst im Mittelfeld. Hier verengten sich oft die Räume, da beide Mannschaften die Abstände zwischen ihren Ketten eng hielten. So sah man des Öfteren alle Feldspieler, Franzosen wie Deutsche, in einem Korridor von 15 Metern links und rechts der Mittellinie.

Schnell wurde das Konzept der Franzosen deutlich. Sie versuchten mit langen, oft diagonalen Bällen in den Rücken der Deutschen Abwehr zu kommen und Benzema in Schussposition zu bringen.  Eine Aktion sei hier  beispielhaft dargestellt: In der 33. Minute spielte Linksaußen Griezmann im Strafraum der Deutschen auf den Rechtsaußen Valbuena, doch dessen Abschluss konnte Neuer mit Mühe parieren. Den Nachschuss von Benzema aus vier-fünf Metern konnte Hummels (nach der Partie zum Man of the Match gewählt) in höchster Not über das Tor blocken.

Bei eigenem Ballbesitz lief das Spiel der deutschen Nationalmannschaft meist über die rechte Seite. Man merkte, dass hier mit Lahm und Müller ein im Verein eingespieltes und vielfach bewährtes Gespann agierte. Lahm fand im Vergleich mit der Deutschen Doppelsechs am schnellsten ins Spiel und wirkte vor allem zu Beginn der Partie auf mich wie der eigentliche Motor der deutschen Angriffsbemühungen, während Schweinsteiger und Khedira einige Zeit benötigten, um in die Begegnung zu finden.

Das Spiel der Franzosen wirkte auf mich gelegentlich etwas zu vorhersehbar. Immer wieder war es Cabaye, der mit langen Bällen versuchte, die eigenen Angreifer in Szene zu setzen. Dennoch verpasste es die deutsche Defensivreihe gelegentlich, sich in Erwartung des langen Balles der Franzosen rechtzeitig  von ihrem jeweiligen Gegenspieler zu lösen und nach hinten abzusetzen (um nicht Gefahr zu laufen, überlaufen zu werden). Aber, und dies ist die andere Seite der Medaille, läuferisch war diese Formation wohl das beste, was Löw derzeit zur Verfügung steht (wenn man sich auf gelernte Innenverteidiger beschränkt). Daher gelang es der Deutschen Abwehr dennoch meist, die Franzosen entscheidend zu stören und am Torschuss zu hindern.

Spielerisch wirkte die Deutsche Elf im Vergleich zum Algerien-Spiel verbessert, was vor allem daran gelegen haben dürfte, dass sich die Franzosen keineswegs hinten reinstellten und sich nicht allein aufs Kontern beschränkten. Dadurch ergaben sich für die Löw-Truppe schlicht mehr und größere Räume. Letztlich fehlte jedoch die letzte Genauigkeit und Konsequenz beim letzten oder vorletzten Pass.

Nach dem Seitenwechsel verstärkten die Franzosen ihre Angriffsbemühungen. Es häuften sich die brenzligen Situationen in und rund um den deutschen Strafraum. Dennoch hatte ich kaum je das Gefühl, dass die Franzosen ein Tor schießen könnten. Die nur aus Innenverteidigern bestehende Abwehrkette schloss wie von Löw erwartet das Zentrum, sodass die Franzosen meist aus eher ungünstigen Winkeln zum Schuss kamen. Der Einsatzwillen stimmte, und aus einer guten Formation ragten Lahm und Hummels heraus, die beide eine großartige Leistung zeigten.

In der 69. Minute wechselte Löw zum ersten Mal und brachte Edeljoker Schürrle für Klose, der defensiv viel gelaufen war, aber offensiv kaum in Erscheinung treten konnte.

Deschamps reagierte auf den Spielstand und die fortschreitende Spielzeit und verstärkte seinerseits die Offensive seiner Elf. In der 73. Minute kam mit Remy (für Cabaye) ein weiterer Angreifer. Einige Male schienen die Franzosen nun doch dicht vor dem Ausgleichstreffer zu stehen, doch letztlich überstand die Deutsche Abwehr diese Drangphase des Gegners (50.- 80. Spielminute) mit Glück und Geschick.

Ich hätte mir gewünscht, dass Löw spätestens ab der 75. Minute zu seiner für dieses Turnier favorisierten Formation zurückgekehrt wäre, also Lahm zurück in das Zentrum beordert hätte. Vor allem der vor dem Turnier lange verletzte Khedira schien mir mit dem Kräften merklich am Ende zu sein. Als Beleg mag eine Szene in eben jener Spielminute dienen: Khedira lief tief aus der eigenen Hälfte starten einen längeren Sprint mit Ball, wurde jedoch eingeholt und ließ sich dann, offenbar auf einen Freistoß spekulierend, kurz hinter der Mittellinie fallen (den Freistoß gab Pitana hier zurecht nicht, denn da war gar nichts – außer Khediras offensichtliche Erschöpfung).

Je mehr sich die reguläre Spielzeit dem Ende zuneigte, desto mehr waren die Franzosen nun gezwungen, ihre Abwehr zu entblößen, um doch noch den Ausgleichstreffer zu erzielen. In der 82. Minute lief der eher unauffällig spielende Özil bei einem Konter der Deutschen Elf auf dem linken Flügel auf und davon. Leider trat Müller nach dem feinen Rückpass Özils (von der Grundlinie diagonal durch den Strafraum der Franzosen) am Ball völlig vorbei. Dieser kam jedoch zum ebenfalls mitgelaufenen Schürrle. Schürrle wollte den Ball aus halbrechter Position gegen die Laufrichtung des Torhüters, Lloris, ins lange Eck schieben, traf aber ebenfalls den Ball nicht sauber, sodass der Torwart der Franzosen den Schuss mit den Beinen parieren konnte. Das hätte das 0:2 sein müssen.

Überhaupt möchte ich an dieser Stelle einmal eine Lanze für Özil brechen. Sicher hat er schon deutlich bessere Spiele abgeliefert als bei diesem Turnier. Schaut man sich jedoch u.a. seine Pass-Quote an, so verstehe ich absolut, warum der Bundestrainer an ihm festhält. Ich empfehle in diesem Zusammenhang die Lektüre des Artikels im Blog gegendenball: „http://gegendenball.com/vom-edeltechniker-zum-pruegelknaben-mesut-oezil/“. Spieler wie er (oder Boateng, früher auch Ballack) wirken in ihren Bewegungen mitunter aufreizend lässig, was ihnen m.E. irrtümlich als fehlendes Temperament oder mangelnden Einsatzwillen ausgelegt wird. Hier sollte man auch aufpassen, dass man sich als Zuschauer nicht von den TV-Kommentatoren beeinflussen lässt (Vergleiche hierzu: http://www.handelsblatt.com/sport/wm2014/anstoss-die-wm-kolumne-alltaegliche-stigmatisierung/10137194-2.html). Halten wir  bei aller angemessenen Kritik fest: Hätten Müller oder Schürrle diese Vorlage von Özil genutzt, so hätte Özil einen weiteren Assist auf seinem Konto.

In der 83. Spielminute ersetzte Götze Özil, was mich verwunderte. Denn es bestand ja mindestens theoretisch die Möglichkeit, dass sich die Franzosen dank eines späten Treffers noch in die Verlängerung retten würden. Insofern wäre Khedira schon allein aus konditionellen Gründen mein Favorit für eine Auswechselung gewesen. Löw aber, das ist jedenfalls meine Erklärung für seine Wechselstrategie, hoffte wohl über die beiden frischen Leute (Götze und Schürrle) das Spiel endgültig zugunsten Deutschlands entscheiden zu können. Tatsächlich hatte erneut Schürrle in der 88. Minute die Chance zum 0:2, aber dieses Mal schloss er überhastet ab und traf lediglich einen französischen Abwehrspieler.

Mit seinem letzten Wechsel (92., Kramer für Kroos) versuchte Löw m.E. hauptsächlich, Zeit von der Uhr zu nehmen. In der Nachspielzeit (90+3.)  zog der sehr auffällige Benzema aus halbrechter Position ab, aber Neuer konnte den Ball dank eines tollen Reflexes mit einer Hand entschärfen. Es blieb daher beim knappen, aber keineswegs unverdienten Sieg der Deutschen Nationalmannschaft.

Schiedsrichter: Nestor Pitana (Argentinien) leitete die Partie ordentlich, aber mit mehrfach falscher Bewertung von Abseitsstellungen. Versagte Deutschland in der 24. Minute zu Recht einen Elfmeter, den man aber gemessen am „Robben-Elfmeter“ bei dieser WM hätte geben können.

Fazit: Die Deutsche Mannschaft erreicht dank einer starken Teamleistung vor allem in der Defensive das Halbfinale der WM. Herzlichen Glückwunsch!

Bei den Franzosen gefiel mir besonders Benzema. Frankreich hat nach einer desaströsen Phase wieder eine starke und vor allem geschlossene Mannschaft, mit der bei den kommenden Turnieren vermehrt zu rechnen sein wird.

Im anderen Spiel des Tages, dem des Gastgebers Brasilien gegen Kolumbien, setzte sich Brasilien mit 2:1 durch. Die Deutsche Elf trifft also im Halbfinale auf den Gastgeber. Dieser geht aber mit dem Handicap in das Spiel, dass ihr Superstar, Neymar (Bruch eines Lendenwirbels. Gute Besserung!), ausfallen wird. Zudem muss die Seleçao auf ihren Kapitän, Thiago Silva (gelbgesperrt) verzichten. Für mich geht daher das Deutsche Team trotz Heimvorteil der Brasilianer als leichter Favorit in das kommende Spiel.

Großartig fand ich, wie Mertesacker seine Nichtberücksichtigung kommentiert hat. Dieser Teamgeist ist nicht nur als vorbildlich zu loben, sondern er erscheint auch als unverzichtbar, will die Deutsche Mannschaft ihr selbstgestecktes Ziel, den Titel, erreichen.