Kreuzer

Profifußball ist kein Ponyhof: Die Causa Hakan Calhanoglu

Hakan Calhanoglu möchte zu Bayer 04 Leverkusen wechseln. Seinen Wunsch hat er laut SPORTBILD der Vereinsführung des Hamburger Sportvereins mitgeteilt. Im Grunde ein ganz normaler Vorgang. Denn seien wir ehrlich, wer, der auch nur halbwegs aufmerksam die Vorgänge in den letzten Jahren rund um den Verein beobachtet hat, wer vor allem die letzte Saison mit drei verschiedenen Trainern mitgemacht hat, möchte sich freiwillig den Chaosverein HSV noch antun? Wenn man andere, besser dotierte Angebote hat, die zudem nach menschlichem Ermessen eine sportlich sorgenfreie(re) Zukunft versprechen? Wer kein grundsätzliches Verständnis für den Wechselwunsch des Spielers aufbringt, dessen Stirn muss mit einem dicken Rautenbrett vernagelt sein.

Der mit Vehemenz vorgetragene Wechselwunsch ansich, das ist in meinen Augen die schlechte Nachricht für alle Hamburger, ist ein Indiz, wie kräftezehrend „inside HSV“ die Saison verlaufen ist. Permanente Diskussionen, Indiskretionen, Klagedrohungen, Personalwechsel und ein gruseliger Saisonverlauf, bei dem den „Söldnern“ nicht weniger als die Last und Verantwortung auferlegt war, das Aussterben des Dinos und damit hunderte, wenn nicht gar tausende Arbeitsplätze in und rund um die Imtech-Arena zu retten. Westermann sprach nach dem entscheidenden Spiel in Fürth davon, dass er im Wiederholungsfall suizidgefährdet sei. Und wer die Bilder nach dem Spiel aus der Kabine gesehen hat, der dürfte vor allem eins bemerkt haben: Erleichterung pur. Selbst Kreuzer, der als ehemaliger Profikicker in seiner Karriere gewiss schon einiges mitgemacht hat, standen die Tränen der Erleichterung in den Augen. Es waren keine Steine mehr, die allen Hamburgern von den Schultern fielen, es waren ganze Gebirgszüge.

Dann schaut man in die Zukunft und versucht zu erfassen, wie es wohl mit dem Dino weitergeht. Bekanntlich steht am 25. Mai die finale Abstimmung über die Ausgliederung der Profiabteilung an. Klammern wir einmal  aus, dass HSVPlus scheitern könnte, oder dessen unverzügliche Umsetzung im Nachfeld der Abstimmung durch juristische Scharmützel aufgehalten werden könnte. Gehen wir also einmal davon aus, dass die Verhältnisse ab dem 26. Mai zugunsten von HSVPlus eindeutig geklärt sind. Und dann? Wer glaubt, dass es nur HSVPlus bedürfe, damit der HSV nächstes oder spätestens übernächstes Jahr das internationale Geschäft erreicht, der irrt. Das Konzept führt zunächst zur Abwendung des finanziellen Super-GAUs, verschafft dem Verein zudem eine derzeit praktisch nicht vorhandene, bescheidene finanzielle Handlungsfreiheit und setzt vor allem auf eine nachhaltige Entwicklung. Nachhaltigkeit bedeutet, dass man endlich gewillt ist, ein Fundament einzuziehen, auf dem das große Haus namens HSV solide stehen kann. Nachhaltigkeit bedeutet, dass Geld in die dringend erforderliche Verbesserung der Nachwuchsarbeit fließt. Zwar beginnt der HSV hier nicht bei null, aber bis hier ein „Return of Invest“ in Gestalt  mehrerer Nachwuchsspieler zu erwarten ist, die die Profimannschaft tatsächlich verstärken können, das dürfte dauern. Die Verpflichtung wirklicher Stars auf dem Transfermarkt, die die Mannschaft umgehend auf ein gänzlich anderes Niveau heben, ist nicht zu erwarten. Kleine Brötchen backen, sich in Bescheidenheit üben, planvoll, strukturiert und systematisch hart arbeiten – das ist die Zukunft. Natürlich, gänzlich ausgeschlossen ist es nicht, dass der HSV in zwei Jahren an den Rängen kratzt, die zur Teilnahme an der Europa League berechtigen. Erwarten sollte man das aber nicht.

Ein professioneller Fußballspieler gleicht in meinen Augen einem dreigeteilten Wesen. Da ist zunächst der Mensch. Dann ist da der Sportler und last but not least die (zu) hoch bezahlte „Ich-AG“. Betrachten wir also Hakans Wechselwunsch unter diesen Gesichtspunkten:

Für den Menschen Calhanoglu stelle ich zunächst fest, dass er mit 20 Jahren noch sehr jung ist. Von der Natur mit einem außergewöhnlichen Talent gesegnet, verschlug es ihn binnen eines Jahres aus dem beschaulichen Karlsruhe in die Metropolregion Hamburg, vom Zweitligaaufsteiger KSC zum ungleich namhafteren Hamburger Sportverein. Aus der Ferne betrachtet mag der HSV immer noch eine gewisse Strahlkraft entfalten, wer sich dem Dino aber nähert, der wird schnell ernüchtert. Chaos, Indiskretionen, Gezänk und der Pleitegeier schweben über dessen Heimstadt. Hand auf ’s Herz! Wer möchte für einen solchen Arbeitgeber spielen? Wenn mir doch ein ungleich erfolgreicherer Verein ein lukrativeres Angebot unterbreitet?

Mit 20 Jahren ist man dem Gesetz nach volljährig. Aus psychologischer Sicht jedoch dauert die Adoleszenz bis zum 25 Lebensjahr. Erst danach kann man in der Regel von einer abgeschlossenen Reifung sprechen. Calhanoglu ist, so hat er es der SPORTBILD erzählt, in eine laufende Sitzung seiner Vorgesetzten gestürmt, hat das draußen an der Tür hängende Schild „Bitte nicht stören!“ ignoriert und hat Jarchow und Kreuzer mit seinem Anliegen konfrontiert. Das muss man erst einmal bringen. So etwas macht man nur, wenn man noch nicht trocken hinter den Ohren ist. Dass er  es nachträglich als „respektlos“ bezeichnet, dass Jarchow eine Wette zu seinem Verbleib beim HSV auch im Abstiegsfall angeboten habe, das passt ins Bild. Wie bitte?! Respektlos? War es nicht Hakan selbst, der via Presse und auch in persönlichen Gesprächen mit Fans des Vereins treuherzig versichert hat, dass er in jedem Fall bliebe? War es nicht Hakan selbst, der seinen Vertrag noch vor wenigen Monaten bis 2018 verlängert hat? Hat er die Vertragslaufzeit nicht gelesen? Jetzt spricht er davon, er hoffe, der Verein würde keine „Mauer“ um seine Karriere bauen. Es wird Zeit, dass die zwanzigjährige Ich-AG Calhanoglu eins begreift: Als vor dem Gesetz Volljähriger trägt man grundsätzlich die Konsequenzen seiner Entscheidungen, mögen sie einem nachträglich auch unbedacht und falsch erscheinen. Wer einen Vertrag unterschreibt, der kann diesen im Regelfall nicht einseitig kündigen. Ausnahme: vorsätzlicher Betrug oder nicht eingehaltene Leistungsversprechungen der Gegenseite. Beides kann hier ausgeschlossen werden. Die sportliche und finanzielle Situation des Hamburger Sportvereins müssen dem Vertragspartner Calhanoglu bei Vertragsunterzeichnung grundsätzlich bekannt gewesen sein. Von nicht eingegangenen Gehältern bei den Spielern des Vereins ist trotz angespannter Kassenlage nichts bekannt. Es ist daher evident, dass eine Vertragsauflösung nur im beiderseitigen Einvernehmen möglich ist. Will der Verein, gleich aus welchen Gründen, dies nicht, so hat dessen Vorstandsvorsitzender jedes Recht der Welt, seine Auffassung zu unterstreichen, dass der Spieler beim HSV bleibt und nicht transferiert wird. Punkt. Respektlos, Hakan Calhanoglu, ist, seinen Vertragspartner öffentlich unter Druck zu setzen. Respektlos ist, Unfug zu erzählen, sich nicht mehr an seine eigenen Worte erinnern zu wollen. Respektlos ist, ausgerechnet van der Vaarts Valencia-Nummer als Rechtfertigung zu bemühen. Das gleicht der Argumentation: Ich darf doch stehlen, der hat es doch schließlich auch gemacht.

Als Sportler hat man nur eine begrenzte Zeit, um seine sportlichen Ziele zu erreichen. Und natürlich lauern auf diesem Weg erhebliche Gefahren. Es dürfte zehntausende großer Talente gegeben haben, die allemal das Zeug zum Profi gehabt hätten, und die es nie an die großen Fleischtöpfe geschafft haben, weil ihr Körper sie vorher im Stich ließ. Oder sie setzten sich durch, erlitten dann aber schwere Verletzungen, die bei ihren sportlichen Zielen einen dicken Strich durch die Rechnung erforderten. Man frage nur nach bei Holger Badstuber, der ohne seine schwere Verletzung höchstwahrscheinlich mit zur WM nach Brasilien gefahren wäre. Aus der Traum. Insofern habe ich durchaus Verständnis dafür, dass auch ein Hakan Calhanoglu von Titeln träumt, oder eine EM-Teilnahme mit der Türkei 2016 im Blick hat. Dass seine Chancen hier als Spieler von Bayer 04 Leverkusen ungleich besser stünden – wer wollte das bestreiten (s.o.)? Aber wer, wie Calhanoglu, jetzt das permanente Verletzungsrisiko anführt, der sollte vielleicht gleich mehrere Dinge bedenken:

1. Der Hochrisikosport Profifußball wird ganz ordentlich vergütet. Selbst ein Calhanoglu, der hoffentlich noch am Anfang einer großen Karriere steht, dürfte bereits jetzt mehr verdient haben, als so mancher in dieser Gesellschaft in der Lage ist, in seinem gesamten Berufsleben zu verdienen;

2. Gestern noch mit dem KSC aus der der 3. in die 2. Liga aufgestiegen, hat ihm der HSV heuer die Bühne geboten, um sich Erstligaspieler nennen zu dürfen. Wenn Calhanoglu auf seine 11 Tore verweist, die er zum Klassenerhalt beigetragen habe, so ist das schließlich einer der Gründe, die den HSV seinerzeit veranlassten, seinem Offensivspieler einen nicht nur verlängerten, sondern mutmaßlich auch besser dotierten Vertrag anzubieten. Diesen hat der Spieler freiwillig unterzeichnet. Quit pro quo. Calhanoglus Argumentation läuft ins Leere. Oder sollen sich demnächst die Abwehrspieler dafür ausdrücklich abfeiern lassen, dass sie das gemacht haben, wofür auch sie ganz ordentlich bezahlt werden, nämlich Tore des Gegners zu verhindern?;

3. Es war auch Calhanoglus Leistung der ersten Halbserie, auch er war Teil der Mannschaft, die tabellarisch immer weiter abgerutscht ist, bis ein Stück weit das Schicksal des ganzen Vereins vom Ausgang der Relegation abhing. Calhanoglu wäre gut beraten, nicht nur stolzgeschwellt auf seine 11 Tore zu verweisen, – die sind aller Ehren wert! – sondern auch selbstkritisch den eigenen Anteil daran zu reflektieren, dass es überhaupt zu dieser Horrorsaison gekommen ist. Mit zwanzig und gerade einmal einer guten zweiten Halbserie als wirklicher Erstligaspieler im Rücken stehen einem grundsätzlich noch alle Türen offen. Wenn man vernünftig bleibt. Die Geschichte des Profifußballs ist voll von Spielern, die die falschen Entscheidungen getroffen haben. Man frage mal bei der gefühlten Legion an Spielern nach, die mit großen Ambitionen zum FC Bayern München gewechselt sind und dort dann auf der Bank versauerten;

4. Die kluge Karriereplanung eines hochtalentierten Spielers, und dies ist Calhanoglu unbestreitbar, kann aktuell den HSV nur als Durchgangsstation sehen. Kaum jemand, der sich wirklich auskennt, dürfte tatsächlich geglaubt haben, dass Calhanoglu seinen Vertrag bis 2018 beim HSV erfüllt. Aber Calhanoglu, den ich hier für außerordentlich schlecht beraten halte, hätte gut daran getan, sich mindestens auf ein weiteres Jahr beim HSV einzustellen. Zum einen hätte er dem Verein und seinen Fans eine ganze Saison als vollwertiger Erstligaspieler für das ihm bei seiner Verpflichtung entgegengebrachte Vertrauen „zurückzahlen“ können, zum anderen hätte er dann als tatsächlich etablierter Spieler mit deutlich mehr Erfahrung den ungleich härteren Konkurrenzkampf wo auch immer aufnehmen können;

5. Wer seinen derzeitigen Arbeitgeber öffentlich(!) unter Druck zu setzen versucht, der mag nichtsdestotrotz andernorts angesichts seines Talents noch Begehrlichkeiten wecken. Aber wer wie Calhanoglu schon von Messi spricht, dem er nacheifern wolle, der signalisiert gerade einem Verein, der sich nicht umsonst die Bezeichnung „Vizekusen“ einst schützen ließ, dass er auch den nur als weitere Durchgangsstation sieht. Dafür dürften sie in Leverkusen zwar grundsätzliches Verständnis haben, das dürfte man dort sogar einkalkulieren, aber man dürfte sich eben bereits jetzt auch den einen oder anderen Gedanken über den Charakter dieses (möglichen) zukünftigen Spielers machen. Zwar kennt jeder die Usancen des Geschäfts, insofern ist der Verweis Calhanoglus auf van der Vaarts damaliges Verhalten beim HSV durchaus nachvollziehbar, aber wer nur drei Monate nach Vertragsunterschrift ein derartiges, öffentliches Theater inszeniert, der signalisiert nicht nur grundsätzliche Unreife, sondern auch, dass man sich als Arbeitgeber einen Spieler in den Kader holt, der grundsätzlich seine ureigensten Interessen über den Verein stellt. Bei dem rechne ich als Arbeitgeber auch damit, dass dieser Spieler öffentlich Theater macht, sollte ihn mein Trainer auf die Bank oder gar Tribüne setzen. Eine Fußballmannschaft ist aber ein fragiles Gebilde, denn sie besteht überwiegend, mindestens zu einem gewissen Teil, aus Egoisten, die im Dienst der gemeinsamen Sache erfolgreich kooperieren sollen. Egomanen braucht da keiner.

Der HSV hat das Heft des Handelns in der Hand. Natürlich, das weiß inzwischen jeder, kann sich der HSV finanziell nicht leisten, Calhanoglu, der durch die Blume auch schon Leistungsverweigerung androhte, aus Gründen der Abschreckung auf Dauer auf der Tribüne versauern zu lassen. Aber der HSV darf es sich eben auch nicht mehr (sic!) leisten, dass seine Spieler, heißen sie  van der Vaart oder Hakan Calhanoglu, via Öffentlichkeit Politik in eigener Sache betreiben. Wer sich einmal erpressen lässt, der braucht sich über den Eingang zukünftiger, weiterer Forderungen Dritter nicht wundern. Findet der HSV keine adäquaten Ersatz und(!) entspricht die ggf. anzubietende Ablöse nicht den Erwartungen des Vereins, so muss der Verein aus diesem übergeordneten Gesichtspunkt (Abwehr weiterer Forderungen) auf die Erfüllung  des Vertrages bestehen.

Profifußball ist kein Ponyhof. Dem jungen Menschen, Hakan Calhanoglu, nehme ich sein Verhalten nicht übel. Bei aller menschlichen Enttäuschung ist hier ein kühler Kopf gefragt. In meinen Augen wäre es Aufgabe seines Beraters gewesen, ihn zur Zurückhaltung zu mahnen, anstatt die offensichtlichen Flausen in seinem Kopf  offenbar noch zu verstärken. In jedem Fall dürfte er seinem Image in der Öffentlichkeit, gleich ob in Hamburg, Leverkusen oder andernorts, im Grunde ohne jede Not schwere Kratzer zugefügt haben. Auch das, ein sauberes Image, ist, wenn man aus der Perspektive einer Ich-AG denkt, Geld wert… Insofern sollten alle HSV-Anhänger, die jetzt über diesen jungen Menschen herfallen, auch bedenken, dass sich hier letztlich einer selbst geschädigt hat. Nur hat er es noch nicht bemerkt.

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Von Narren, Dinos und Scheidewegen: 1. FSV Mainz 05 – Hamburger SV

Morgen ist es also soweit: Der HSV trifft im letzten Saisonspiel des regulären Spielplans auf Mainz 05. Und ehrlich gesagt bin ich erleichtert. Erleichtert, dass diese desaströse Saison aus Sicht der Hamburger nun endlich zu einem Ende kommt. Seit Wochen gleicht jedes Denken über die sportliche Situation des Dinos einem nie endenwollenden Horror vacui. Spieltag für Spieltag blieben viele, viel zu viele Fragen offen. Fast alle zwischenzeitlich vermeintlich gefundenden Antworten erwiesen sich binnen kürzester Zeit als untauglich und hinfällig. Mit Mirko Slomka beschäftigt man bekanntlich inzwischen (nach Thorsten Fink und Bert van Marwijk) den dritten Trainer in dieser Spielzeit.  Und man darf aus guten Gründen daran zweifeln, ob dieser Trainer, so er denn mit dem HSV absteigen sollte, auch in der zweiten Liga Trainer des Hamburger Sportvereins sein wird. Denn mit der Realität hat man es nicht so in Hamburg. Im Zweifel zählen die sprichwörtliche „Raute im Herzen“ oder das Image mehr als die fachliche Qualifikation. Man fühlt sich stets zu Höherem berufen und verpflichtet „Namen“. Als Ausdruck dieser Denke darf man getrost das vom Vorstandvorsitzenden Jarchow verkündete ursprüngliche Saisonziel, Platz 6 und der Einzug in das internationale Geschäft, werten. Eine nüchterne sportliche Analyse der Leistungen in der Vorsaison hätte meiner Meinung nach zur Vorsicht gemahnen müssen. Zwar wurde unter dem damaligen Trainer, Thorsten Fink,  Platz 7 erreicht, jedoch waren die Leistungen schon damals alles andere als berauschend, teilweise sogar desolat. Die Mannschaft spielte bereits damals äußerst wechselhaft. Vor allem gegen Ende der Saison wurde zunehmend deutlich, dass die von Fink verordnete Spielanlage, u.a. abkippender Sechser und einrückende offensive Außenbahnspieler, alles andere als sattelfest wirkte. Im Gegenteil! In der Theorie war Finks Taktik durchaus vielversprechend,  interessant und anspruchsvoll. In der Praxis spielte der HSV absolut schematisch und leicht vorhersehbar. So verwundert es nicht, dass die gegnerischen Trainer alsbald eine eigene taktische Lösung gegen den HSV fink’scher Prägung  gefunden hatten. Man stellte im Zentrum die Räume zu, attackierte konsequent bereits den Spielaufbau des HSVs und musste nur auf die vorhersehbaren Ballverluste der  Hamburger warten. Wahlweise konnte man dann über die entblößten Flügel oder sogar durch die Mitte kontern. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Was sich vielleicht wie eine Abrechnung mit Fink liest, ist so nicht gemeint. Ich halte Finks System für unverändert interessant und glaube, dass man das mit einer anderen, einer individuell besseren Mannschaft durchaus erfolgreich spielen lassen kann.) Wenn man in Hamburg jedoch schon nicht die ganz großen Namen präsentieren kann, dann, darauf kommt es mir hier an, will man sich wenigstens umgehend den Abglanz der tatsächlich Großen holen. Ausdruck dessen sind für mich dann Namen wie Fink und auch Kreuzer, die dem Verein endlich das bayrische „Sieger-Gen“ verschaffen soll(t)en. Dabei wurde, so mein Eindruck, viel zu lange übersehen, dass der Erfolg der Münchner auf vielen Säulen beruht, die alle aufzuzählen ich mir hier erspare. Allein das viel zitierte „mia san mia“-Credo der Münchner ist es jedenfalls nicht, sondern vor allem fachliche Kompetenz im Verein auf allen Ebenen. In Hamburg hingegen blendet man sich traditionell mit bekannten Namen, Bert van Marwijk war auch so einer, und kündigt permanent Konzepte an, die oft schon nach wenigen Wochen wieder in Frage gestellt werden. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln – auch das ist der Hamburger Sportverein. Dass sich der HSV einen grotesk aufgeblähten Aufsichtsrat bis heute leistet, dessen wesentliches Merkmal die Tatsache ist, dass Interna umgehend nach außen getragen werden, um sie in der örtlichen Boulevardpresse zu lancieren, und in welchem man sportliche Kompetenz seit Jahrzehnten mit der Lupe suchen musste, auch das begründet die Behauptung, dass die tatsächlichen Narren der Liga nicht beim kommenden Gegner in Mainz, sondern längst in der Hansestadt beheimatet sind.

Der Mainzer Manager, Heidel, schrieb es dem HSV vor Wochen in einem überaus lesenswerten Interview mit der FAZ ins Gebetbuch. Nachzulesen ist es hier:

http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/bundesliga/im-gespraech-mainz-manager-heidel-was-der-hsv-macht-ist-grundfalsch-12806212.html

Ich möchte daraus nur einen Gedanken aufgreifen: Heidel stellt m.E. zutreffend fest, dass der HSV eine vereinseigene Philosophie entwickeln müsse, die unabhängig von jeweils neuen Personal (u.a. Trainer, Sportdirektor) zu funktionieren habe. Die Realität beim HSV ist unverändert eine andere. Inzwischen ist Sportdirektor Kreuzer m.E. erkennbar darum bemüht, die z.T katastrophalen personellen Entscheidungen der Vergangenheit, z.B. die Aussortierung der Ex-Chelsea-Spieler (Fink), die Abgabe Rudnevs an Hannover 96 (Fink und van Marwijk), oder die Verpflichtung der nur eingeschränkt bundesligatauglichen Perspektivspieler, John und Bouy (van Marwijk), den ehemaligen Trainern in die Schuhe zu schieben. Natürlich, das sehe ich wohl, sollte man als sportliche Führung möglichst in inhaltlichen Bewertungen übereinstimmen. Dass aber ein Manager in Hamburg einen Trainer umgehend entlässt, weil dieser seiner Meinung nach nicht zur Vereinsphilosophie passt, so geschehen seinerzeit bei Jörn Andersens Entlassung durch Heidel in Mainz, das ist in Hamburg praktisch unvorstellbar. Denn eine tatsächliche Vereinsphilosophie hat der HSV, wenn wir mal von der relativ kurzen Ära Hoffmann/Beiersdorfer absehen, ebenso wenig, wie profifußballspezifische Kompetenz in seinen Gremien. Zu wahrer Meisterschaft hat es der HSV in den vergangenen Jahrzehnten meist nur im regelmäßig überhöhten Anspruch an sich selbst und in seinen diversen Possenspielen gebracht. Auch hier steht der HSV am Scheideweg: inzwischen ist der HSV auch aufgrund der vielen Fehlentscheidungen finanziell bekanntlich in einer derart prekären Lage, dass man, auch wenn man in Einzelpunkten das Ausgliederungsvorhaben der Initiative HSVPlus kritisch sehen mag, am 25. Mai entweder die notwendige Mehrheit von 75,1 Prozent der stimmberechtigten Vereinsmitglieder erreicht, oder  sich mindestens dauerhaft aus der ersten Liga verabschiedet. Dass die Ausgliederungsgegner trotz eines deutlichen Wählervotums bei der Mitgliederversammlung im Januar mit 54 (in Worten: vierundfünfzig!) einzelnen Anträgen noch diese Entscheidung verhindern wollen – mehr Narretei ist in meinen Augen fast unvorstellbar.

Vor dem kommenden Spiel  dürfte die tabellarische Ausgangslage hinlänglich bekannt sein. Jeder ist in der Lage, die Tabelle zu lesen und entsprechende Rechnungen anzustellen. Der HSV hat, das ist entscheidend, sein Schicksal in den eigenen Händen. Ermutigend erscheint mir, dass der schmerzlich vermisste Torjäger Lasogga wohl wieder zur Verfügung steht. Unklar erscheint mir jedoch, ob seine Fitness einen Einsatz von Beginn an zulassen wird. Gleiches scheint mir für beide nominellen Außenverteidiger, Diekmeier und Jansen, sowie für Djourou fraglich. Ich tippe mal auf die folgende Aufstellung:

Adler – Diekmeier, Westermann, Mancienne, Jiracek (Jansen) – Calhanoglu, Badelj, Tesche, Ilicevic – van der Vaart – Lasogga

Bei Diekmeier stimmt mich allerdings nachdenklich, dass er zuletzt wenig mit der Mannschaft trainiert hat. Jansen hat laut Slomka nur „integrativ“, also nicht vollständig mit der Mannschaft trainieren können. An einen Startelfeinsatz glaube ich bei ihm daher nicht. Alternativ könnte ich mir auch in Anlehnung an das Spiel gegen den FCB und unter Berücksichtung der mutmaßlichen Fitnesszustände diese Aufstellung gut vorstellen:

Adler – Westermann, Djourou, Mancienne, Jiracek (Jansen) – Rincon, Badelj, Tesche (Arslan), Calhanoglu – van der Vaart – Ilicevic

Hier würden Westermann und Rincon die rechte Außenbahn bespielen. Auch wenn Rincon kein offensiver Außenbahnspieler ist, so hat er diese Position im Verbund mit Diekmeier zuletzt ordentlich gespielt, finde ich. Für einen Einsatz Arslans spräche, dass er nach seiner Sperre vollkommen ausgeruht sein dürfte. Angesichts der Bedeutung des Spiels und des damit einhergehenden nervlichen Drucks auf die Spieler wäre mir jedoch wohler, er bliebe zunächst auf der Bank. Es geht mir hier nicht darum, über diesen jungen Spieler den Stab endgültig zu brechen, aber in den letzten Spielen hat er aus meiner Sicht alles andere als überzeugt. Zu oft bot er Alibi-Fußball und zu naives taktisches Verhalten in meinen Augen. Aber vielleicht bringt ihn Slomka ja doch, und Tolgay straft mich Lügen. Ich hätte nichts dagegen. Denn dass er nicht nur Talent besitzt, sondern auch gute Spiele machen kann, auch das hat er vor allem in der Rückrunde bereits mehrfach bewiesen. Bei jungen Spielern ist einfach immer mit einer gewissen Leistungsschwankung zu rechnen. Auch ein Grund, warum ich derzeit dem erfahreneren Tesche bevorzugen würde. So oder so – sollte der wort case eintreten, dann dürfte es ohnehin der letzte Auftritt diverser Spieler im Dress des HSVs werden. Ich gehe ohnehin davon aus, dass wir mindestens van der Vaart, Jansen, Rincon und Lasogga in der nächsten Saison in anderen Trikots sehen werden. Schon allein aus finanziellen Gründen…

Tuchels Mainzer spielen in einer ähnlichen Grundformation wie der Hamburger Sportverein, also in einem 4-2-3-1. Der Mainzer Trainer ist bekannt dafür, dass er zu jedem Gegner einen ganz speziellen Match-Plan entwickelt. Das macht zwar in meinen Augen tatsächlich jeder Trainer, dennoch dürften wenige Übungsleiter in der Liga gegnerbedingt ggf. so viele personelle Umstellungen vornehmen, wie es der Mainzer regelmäßig exerziert. Ich erwarte, dass er seine Mannschaft grundsätzlich offensiv einstellen wird. Dazu gehört, dass man mindestens phasenweise mit konsequentem Offensivpressing das Nervenkostüm der Hamburger testen wird. Dass die Hamburger immer mal wieder für einen Aussetzer gut sind, davon kann sicher nicht nur der leidgeprüfte HSV-Anhang inzwischen ein Lied singen. Aus Sicht des HSV spricht zunächst wenig dafür, die eigene Defensive zugunsten eigener Angriffsbemühungen zu vernachlässigen. Sicher, so konnte man es bei der PK vor dem Spiel bei Slomka heraushören, wird man fortlaufend von den Spielständen bei der Konkurrenz unterrichtet und ggf. darauf reagieren. Insofern wäre auch denkbar, dass man, ähnlich wie gegen Bayern, zunächst eher auf Konter spielt, bzw. über die lauffreudigen Ilicevic und van der Vaart versucht, die Mainzer entscheidend zu attackieren. Lasogga bliebe dann als erste Option zunächst auf der Bank und käme nach seiner Verletzung erst im Laufe der zweiten Halbzeit ins Spiel, bzw. würde in Abhängigkeit vom jeweiligen Stand der Dinge frischen Elan bringen können.

Ich gehe also grundsätzlich von offensiven Mainzern und einer zunächst um defensive Stabilität bemühten Hamburger Mannschaft aus. Vermag es der HSV erneut kompakt zu agieren, ohne sich durch haarsträubende Aussetzer selbst um den Lohn zu bringen, dann wird dieses Spiel nur die erste Weggabelung auf dem Weg zum Klassenerhalt. Verfällt der Dino jedoch in seinen sattsam bekannten Kardinalsfehler, taktisch nicht als Team zu spielen, dann könnte man leider bereits zur Sportschau feststellen müssen, dass sich der Dino faktisch selbst ausgerottet hat. Und da ich inzwischen davon überzeugt bin, dass es mit Sicherheit in und rund um den Verein mehr als genug Narren gab und unverändert gibt, wäre sein Aussterben zwar allemal beklagenswert, aber eben vor allem selbst verschuldet. Morgen wird, hoffentlich, hoffentlich!, vorerst nur die sportliche Zukunft (vor)entschieden. Der HSV aber muss sich in diesen Tagen und Wochen endlich grundsätzlich entscheiden, was er zukünftig sein möchte: Ein selbstverliebter, realitätsleugnender Gernegroß, ein Maulheld nicht eingelöster Ankündigungen, oder ein Verein, der die vielfältigen Lektionen der letzten Jahre endlich gelernt hat. Wer es jetzt noch nicht begriffen hat, dem ist m.E. kaum noch zu helfen. Am Ende bekommt man nur das, was man sich verdient. So oder so. Dieser Dino wäre jedenfalls der erste, der nicht durch höhere Mächte, sondern durch eigenes Verhalten ausstirbt.

Die Partie wird geleitet von Schiedsrichter Kinhöfer.