Fink

von alten und neuen Kapitänen, Klippen und einer Bergung, die andauert

Preisfrage: was haben die Costa Concordia und der HSV gemeinsam? Antwort: Beide wurden von überforderten Kapitänen kommandiert, beide wurden fast versenkt. Und in beiden Fällen sind sich die Kapitäne kaum einer Schuld bewusst.

Der Unterschied: der gockelhafte Capitano Schettino, der das ihm anvertraute Schiff offenbar vor allem aus Geltungssucht auf die Klippen der kleinen Insel Giglio setzte, bevor er natürlich nur rein zufällig in eines der ersten Rettungsboote stolperte, der besitzt (noch) ein Kapitänspatent. Carl-Edgar Jarchow wurde die Befähigung zur Führung des Dickschiffs namens HSV lediglich unterstellt. Ein in Kreisen Hamburger Pfeffersäcke durchaus klangvoller Nachname, ein wenig rhetorische Befähigung zu Politiker-Floskeln, schon wurde aus einem Hinterbänkler ein idealer Kompromisskandidat. Ein Kapitänspatent, also die tatsächlich nachgewiesene Befähigung zur Leitung eines mittelständischen Unternehmens mit einem Jahresumsatz von immerhin ca. 140 Millionen Euro in einer sehr speziellen Branche – wer braucht das schon? Wen wundert es, dass Jarchow, der mindestens die politische Verantwortung für  eine unter seiner Führung dramatisch verschlechterte finanzielle Lage des Vereins trägt, rückblickend nur die eine oder andere personelle Entscheidung als  eigenen Fehler erkennt.

Kapitäne, die vor allem auch Kraft ihrer eigenen Einschätzung über das Patent zur großen Fahrt verfügten, auch das hat(te) schließlich traurige Tradition beim einst ruhmreichen Hamburger SV.  Doch mit Ruhm und Tradition ist das so eine Sache. Beides gründet in der Regel auf Vergangenem.

Einschneidende Veränderungen und die Mär vom ausgeglichenen Wettbewerb

Der Fußball hat sich seit Gründung der Bundesliga fortlaufend verändert. Wie alle anderen Sportarten auch. Das ist eben so banal wie einfach festzustellen. Die vierstellige Bezahlung, für welche die ersten Profis noch die Schuhe schnürten, die verlangt heute schon ein namenloses Nachwuchstalent. Plus Festanstellung für den Herrn Papa, z.B. als Scout selbstredend.

Durch das Bosman-Urteil (1995) des Europäischen Gerichtshofs haben sich die Kräfteverhältnisse in den Vertragsverhandlungen zwischen Vereinen und Spielern zugunsten der Spieler verschoben. Durch den Einstieg des Bezahlfernsehens kamen Gelder in bis dato ungeahnter Größenordnung in Umlauf. Und die Umgestaltung der kontinentalen Pokal-Wettbewerbe in Ligen (in Europa: Championsleague, Euro-League) bewirkte ein Übriges. Wenn ich mich recht erinnere, so wurde in den Neunzigern eine von den nationalen Ligen gänzlich abgekoppelte eigene Liga für die G20-BigPlayer unter den Vereinen diskutiert und lautstark abgelehnt. De facto ist sie jedoch durch die Hintertür längst eingeführt worden. Denn früher ließ sich mit dem Gewinn des UEFA-Pokals oder des Europapokals der Pokalsieger durchaus noch Staat machen ( – auch wenn der Pokal der Landesmeister schon damals der bedeutendste Wettbewerb war). Heute landet man als Runner-up des nationalen Wettbewerbs oder Gewinner des nationalen Pokals in einem Trostpflaster-Wettbewerb namens Europa-League, der zunächst einmal Geld kostet. Weil man die Kadergröße an die Doppelbelastung anpassen muss, weil Siegprämien zu zahlen und zusätzliche Reisekosten zu tragen sind. Etwas Geld kann man dort erst ab dem Halbfinale verdienen. Leider garantiert einem keiner zum Start, dass man diese Gewinnzone auch tatsächlich erreicht. Anders für die Teilnehmer der Champions League. Hier werden zweistellige Millionenbeträge schon in der ersten Gruppenphase garantiert. Gewinnt man den Pokal, kommen  schnell 60 (sechzig!) Millionen Euro auf das Konto. Diese krasse Ungleichverteilung der Gelder hat zur Folge, dass Jahr für Jahr weit überwiegend die ewig gleichen Namen in der Champions League anzutreffen sind. Die reichen Vereine werden immer reicher, die Emporkömmlinge werden mit Brosamen ruhig gestellt, und der Rest, zu dem inzwischen auch der HSV zu zählen ist, spielt gegen den Abstieg.

Auch aus rein sportlicher Sicht sind unschwer bemerkenswerte Veränderungen festzustellen. Jeder, der sich heute z.B. die WM-Classics von ’74 bis ’90 anschaut, wird sofort bemerken, wie vergleichsweise  langsam die Spiele waren, wie viel Zeit bspw. ein Netzer hatte, um aus der Tiefe des Raumes nach vorne zu traben. Derart viel Zeit bekommt ein ballführender Spieler heute nicht einmal mehr in den unteren Regionen der zweiten Liga.

Manndeckung, Ausputzer? 1990 wurde Deutschland unter Beckenbauer mit einem 5-3-2-1 Weltmeister. Spielt in dieser Form heute kaum einer mehr. Viererkette? Noch Anfang der Neunziger behaupteten fast alle deutschen Experten, diese Art des Spielens passe einfach nicht zu deutschen Spielern.  Gleich so, als sei im deutschen Fußball-Genom das entsprechende Gen aufgrund des Wirkens höherer Mächte einfach nicht aufzufinden. Kennen wir schon (von den Holländern), können wir aber nicht, wollen wir daher nicht. Haben wir noch nie so gemacht und waren doch häufiger im Finale (als die kleinen Nachbarn). Basta.

Dann kam ein damals junger Trainer, Ralf Rangnick, mit dem SSV Ulm und bewies das Gegenteil. Der „Professor“ muss uns nicht den Fußball erklären! Was bildet der sich ein?!, mokierte sich das Establishment. Heute sind auf Kettenbildung basierende Systeme längst eine Selbstverständlichkeit. Mehrere Trainer experimentieren sogar mit Dreierketten in der Abwehr. Darunter anerkannte, weltweit respektierte Trainer wie Guardiola und Löw. Aber Fink, der dies exakt ein Mal beim HSV versuchte, der hatte natürlich, natürlich absolut gar keine Ahnung, meinten wieder einmal die Experten zu wissen.

Berti Vogts hat früh, Mitte der Neunziger, wiederholt darauf hingewiesen, dass der deutsche Fußball im Begriff sei, den Anschluss zu verlieren. Er forderte bereits damals ein radikales Umdenken in der Nachwuchsausbildung. Aber das war ja auch der von Raab besungene kleine Bööördi. Kein Grund zur Sorge. Am Ende kam es bekanntlich, wie es kommen musste: Die Nationalmannschaft flog bei den großen Turnieren frühzeitig nach Hause. Und auch die deutschen Klubs waren kontinental kaum noch konkurrenzfähig. Da haben es dann sogar, fast möchte ich sarkastisch gratulieren, die erzkonservativen Granden des DFB geschnallt. Aber wie immer, wenn traditionelle Vorgehensweisen in Frage gestellt werden, ging dies nicht ohne Reibung und Widerstand. Klinsmann, der sich aus guten Gründen weitgehende Befugnisse und ein handverlesenes Team zusichern ließ, wollte zusätzlich den klugen Bernhard Peters zum Sportdirektor des DFB machen. Uh, ein Hockey-Trainer, das geht gar nicht!, befand das Establishment und drückte damals Sammer durch. Die Wahrheit aus meiner Sicht: die Weltmeisterschaft 2014 ist ohne die damaligen Visionen des zu Unrecht auf ein paar Buddha-Statuen beim FCB reduzierten Klinsmann undenkbar. Allem Hoeneß zum Trotz.

Nicht nur der HSV verschläft Entwicklungen

Dann kam der BvB. Vom fast insolventen Pleiteklub zum deutschen Meister. Läuferisch der damaligen Konkurrenz überlegen, konnte Trainer Jürgen Klopp die Aufgabe der Balleroberung aus dem Bereich traditioneller Abwehrarbeit nach vorne, weg vom eigenen Tor verschieben. Pressingphasen, wie sie der HSV übrigens  zeitweilig bereits vor Jahrzehnten(!) unter Ernst Happel gespielt hatte, konnten dank verbesserter Laufleistungen der Spieler zeitlich deutlich ausgedehnt werden. Inklusive s.g. Pressingfallen, d.h. man ließ den Gegner ganz bewusst in bestimmte Räume eindringen, um dort den Ball zu erobern und die gegnerische Abwehr möglichst in Unordnung zu überraschen. Dass der HSV diese Entwicklung fast komplett verschlafen hat, das kann inzwischen kaum noch verwundern. Taktisch unter Zebec und Happel noch zur nationalen und sogar kontinentalen Spitze zählend, klammert(e) man sich in Hamburg viel zu lange an die ruhmreiche Vergangenheit. Überraschender schon, dass anfänglich selbst die Bayern den Dortmundern kaum Paroli bieten konnten. Dann aber kamen sie mit Macht. Heynckes modifizierte den Ballbesitz-Fußball van Gaal’scher Prägung und moderierte geschickt die internen Dissonanzen. Eine Transferoffensive, in deren Zuge u.a. Manuel Neuer und für schlappe 40 Millionen Euro Javi Martinez verpflichtet wurden, brachte sie zurück an die absolute Spitze (Tripple-Sieger).

Der HSV fristete derweil sportlich mehr oder minder orientierungslos sein Dasein. Mit beinahe beängstigender Regelmäßigkeit wurden neue Konzepte angekündigt. Neues Personal (Trainer, aber auch Sportdirektoren und Leiter des NLZ) verpflichtet und alsbald wieder zum Teufel gejagt. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Wen wundert es da noch, dass manches Konzept schon bald nicht mehr das Papier wert schien, auf dem es skizziert wurde?! Natürlich waren und sind nie alle Mitarbeiter des HSV unfähig gewesen! Dass man trotz dieses erzkonservativen, da rückwärts gewandten Kurses immer wieder auch erfolgreich Talente entwickeln konnte, beweist dies. Im Grunde können einem jedoch alle Mitarbeiter des Clubs leid tun, die unter derartigen Umständen über Jahre bemüht waren, tatsächliche Spitzenleistung zu ermöglichen. Aus Nabelschau und Vergangenheitsverklärung lässt sich eben nur äußerst schwer zeitgemäße Leistung in einem Hochkonkurrenz-Wettbewerb generieren.

Analyse als unverzichtbare Basis der Leistungsentwicklung

Es kann schon gar nicht mehr verwundern, dass Beiersdorfer zum Amtsantritt Knäbels eingestand, er habe gar nicht gewusst, dass man eine s.g. Weltstandsanalyse machen kann. Wie aber will man heute Talente aus der U15 auf die Anforderungen des Fußballs im Jahr 2022 vorbereiten, wenn man gar nicht weiß, wohin die Reise geht? Wenn ich gar nicht analysiere, was diese Talente in einer sich stetig wandelnden Sportart erwartet? Das funktioniert nicht. Das kann nicht optimal funktionieren! Und wir reden hier über Beiersdorfer, nicht über Herrn Hunke, Ertel  oder Jarchow…

Neue Spieler bringen oft beim HSV nicht die Leistung, die sie zuvor bei ihren Vereinen gebracht haben. Weil sie allesamt charakterschwach und saturiert sind, sobald sie beim HSV gelandet sind? Das mag in Einzelfällen zutreffen, ist aber meines Erachtens keine erschöpfende, schlüssige Erklärung.

Leistung im Sport basiert in meinen Augen auf sachkundiger, unsentimentaler Analyse: Wo stehe ich derzeit? Wodurch lässt sich die Spitze in meinem Sport kennzeichnen?  Wie kann ich eine etwaige Differenz zwischen meinem Ist-Zustand und dem Soll-Zustand in realistische, da zu erreichende Einzelschritte (Etappenziele) zerlegen? Systematisches, konzeptionelles Arbeiten ist gefragt, nicht Versuch und Irrtum. Die nicht funktionierenden Strukturen müssen  erkannt, aufgebrochen und zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zusammengefügt werden.

Wer, wie der HSV, seit Jahren und Jahrzehnten den eigenen Ansprüchen hinterher läuft, wer serienweise versagt, wenn es um die Wurst geht, der muss sich an die eigene Nase fassen. Der darf nicht die Schiedsrichter, höhere Mächte (Papierkugel) oder einzelne Spieler zum Sündenbock machen. Das ist nur bequem und zu billig.

Fußball ist, das gilt heute mehr denn je, Teamsport. Wie kann man von einer Mannschaft Spitzenleistung erwarten, bei deren Zusammenstellung mal dieser mal jener seine Finger im Spiel hatte? Wie kann ich von einem, zwei oder drei neuen Spielern Spitzenleistung erwarten, wenn das Team als Ganzes nicht funktioniert? Weil die ja (zu) viel Geld verdienen? Mit Verlaub, da spricht doch nur der Sozialneid.

Der einzelne Spieler ist immer auf den Rest seiner Kollegen angewiesen. Selbst Ausnahmekönner wie Maradona, Christiano Ronaldo oder Messi konnten und können durch sehr gut funktionierende Mannschaften neutralisiert werden, wie die Fußball-Historie belegt.

Und dennoch scheint mir ebenfalls richtig: Zwischen rückwärts gewandtem Traditionalismus nebst inzwischen absurd  erscheinendem, überhöhtem Anspruchsdenken, bestand beim HSV zu lange eine Komfortzone, die mindestens nicht leistungsfördernd wenn nicht gar leistungsfeindlich wirkte. Nur ein Beispiel: Frank Rost hat uns seinerzeit vor dem Abstieg bewahrt? – Der darf den Verein nicht  mehr verlassen, hieß es. Ein reiner Reaktionstorwart mit unterentwickelter Spieleröffnung wurde als angeblich unverzichtbar dargestellt. Konnte doch keiner ahnen, dass Manuel Neuer und eine ganz andere Generation von Torhütern (Zieler, ter Steegen, Trapp, Karius und und und) nachrücken würde. Oder etwa doch? Könnte es sein, dass diese neue Generation mitnichten plötzlich vom Himmel fiel? Würde ich nicht der Expertise von Peter Knäbel vertrauen, ich würde befürchten, dass man gerade im Begriff ist, mit Drobny denselben Fehler (wie mit Rost)  zu wiederholen.

Spieler haben in meinen Augen eine Funktion im Team. Diese sollen sie erfüllen (auch dafür werden sie im Fußball nicht zuletzt ganz anständig bezahlt.). Jedem neuen Spieler muss man eine Zeit der Eingewöhnung von einem halben Jahr zu billigen. Schließlich bleiben sie auch als Profis Menschen und sind keine Roboter. Aber spätesten dann muss ich fortlaufend die Entwicklung des Spielers analysieren. Hat er die Erwartungen erfüllt? Besitzt er weiteres Entwicklungspotenzial? Wenn er die Erwartungen nicht erfüllen konnte, bspw. weil er andauernd mit Muskelverletzungen ausfiel, muss zielgerichtet und lösungsorientiert an dem Problem gearbeitet werden. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Alles muss auf den Prüfstand. Komplette sportmedizinische Analyse, maßgeschneidertes, präventives Training möglich?, Ernährung und Lebenswandel sind zu hinterfragen. Bleibt alles ohne Befund und Wirkung, muss man notfalls den Spieler wieder transferieren. Ende. Das mag für den Spieler hart sein, ist aber Berufsrisiko. Das wissen auch die Spieler. Es gibt keine Garantie für die großen Fleischtöpfe. Allein die Leistung kann den Platz auf Zeit an diesen Töpfen  rechtfertigen. Und Leistung, hier schließt sich der Kreis, muss immer in Relation zu den Konkurrenten bewertet werden. Was heute noch ausreichen mag, kann morgen schon ungenügend erscheinen. Weiter, immer weiter! Nichts ist so alt wie die Erfolge von gestern. Die sind schöne Erinnerungen, helfen aber wenig in der Gegenwart, wie z.B. der BvB gerade erfährt. Das bedeutet aber keineswegs, dass man alles im Falle des Misserfolgs sofort über Bord wirft. Gemeint ist aber wohl: hier gibt es ein Problem, für das in angemessener(!) Zeit eine für das Gesamtkonstrukt passende Lösung gefunden werden muss.

Um zum Ausgangspunkt, den größtenteils überforderten Kapitänen auf der Brücke des HSV zurückzukehren: Ich habe versucht, einige Punkte herauszuarbeiten:

  1. Auch der Fußball verändert sich permanent;
  2. Das jeweilige Establishment reagiert darauf gewöhnlich mindestens mit Skepsis wenn nicht gar unverhohlener Ablehnung;
  3. Eine überprüfbare positive Leistungsentwicklung ist Voraussetzung, um einen Rückstand zu verringern;
  4. Der HSV ist aus diversen Gründen den Erfordernissen des Leistungssports bisher nicht gerecht geworden. Der sportliche Niedergang hat daher hausgemachte Ursachen.

Ich betrachte daher die Veränderungen, die Peters und Knäbel beim HSV vornehmen, als sowohl zwingend notwendig als auch überfällig. Dietmar Beiersdorfer besitzt in meinen Augen in diesem Prozess die durchaus wichtige Aufgabe, all die konservativen Kräfte des Vereins „einzufangen“, die ansonsten, die Art und Weise des Scheiterns von Frank Arnesen beim HSV lässt grüßen, das Ganze früher oder später torpedieren werden. Diese Kräfte sind Klippen, die man nicht ignorieren darf, will man das Schiff am Ende in sichere Gewässer schleppen.

Wenn Peters und/oder Knäbel von „Leitplanken“ sprechen, die einzuziehen seien, wenn von leistungssportgerechten Abläufen und Strukturen die Rede ist, die jetzt, fast dreißig Jahre nach dem letzten Titelgewinn, zu etablieren seien, dann ahnt man, wie inkompetent dieser Verein von seinen bisherigen Kapitänen mehrheitlich geführt wurde. Zugleich ist es ein Armutszeugnis für einen Verein mit diesem Anspruch.

Der große Dampfer HSV liegt unverändert leckgeschlagen auf der Seite. Daran ändert auch die Entscheidung der Mitglieder pro HSVPlus zunächst nichts. Ob die Bergung gelingt, werden erst die nächsten 18 Monate zeigen. Es wird mühsam, so viel scheint sicher. Immerhin verfügt die heutige Besatzung auf der Brücke über das nötige Handwerkszeug. Allein dies erscheint mir für den HSV schon fast revolutionär und gibt Anlass zur leisen Hoffnung. Die Entscheidung für die Ausgliederung bleibt jedoch, ungeachtet gewisser Konstruktions- und Umsetzungsfehler und ungeachtet des Ausgangs der Bergung, richtig. Denn die war zu dem Zeitpunkt längst alternativlos.

Grundsätzliches

„Was ich ebenfalls bedenklich finde ist, dass der HSV zu wenig Punkte macht, gute oder halbgute Leistungen, die mit knappen Niederlagen enden sind nichts wert. Wir machen zu wenig Tore, selbst wenn wir gute Konterchancen haben ist die Chancenauswertung schlecht (BVB – Spiel)“

Diese Sätze aus einem Kommentar zu meinem letzten Artikel treffen es in meinen Augen ganz gut, wenn es darum geht, die gegenwärtigen Probleme des HSV zu benennen. Wer wollte es auch bestreiten?! Nur drei selbst erzielte Tore nach bereits neun Spieltagen, und am Ende der bisher absolvierten Spieltage fehlten Punkte. Selbst gegen keineswegs unbezwingbar einzuschätzende Gegner (wie z.B. Köln, Paderborn oder die Hertha) musste man sich mit einem torlosen Remis begnügen, oder  man verlor am Ende sogar deutlich und absolut zurecht.

Beides, die bisher ungenügende offensive Durchschlagskraft und die fehlenden Punkte, ist zweifellos besorgniserregend. Punkt.

Etwas anders sehe ich es im Bezug auf die Behauptung, gute oder halb gute Leistungen, die in Niederlagen münden, seien nichts wert. Tabellarisch bleibt auch dies unbestreitbar richtig, aber die Analyse der Leistungsentwicklung einer Mannschaft und damit auch der Arbeit eines Trainers darf sich nicht ausschließlich auf Resultate und Tabellenstände beziehen. Das ist mir zu vordergründig.

Was wie ein Freifahrtschein für Zinnbauer missverstanden werden kann, ist ausdrücklich so nicht gemeint. Auch er ist am Ende an Ergebnissen zu messen. Niemandem wäre damit gedient, würde die Mannschaft unter seiner Leitung zwar gut spielen, am Ende der Saison jedoch sang und klanglos absteigen. Dennoch halte ich es für wichtig, ob Niederlagen aufgrund schlechter Leistungen wie gegen Hertha zustande kommen, bzw. gegen wen (FC Bayern München) verloren wird.  Wann, wie und gegen wen dürfen nicht vollkommen ignoriert werden. Auch die Auswirkungen der unbestreitbar katastrophalen letzten Saison müssen berücksichtigt werden. Nicht nur für die mentale Verfassung der Mannschaft, sondern auch in den Köpfen der Betrachter.

„Gegen wen will der HSV denn überhaupt gewinnen?“, wurde ich gefragt. Auf den ersten Blick und angesichts bisher ausbleibender Punkte erscheint auch mir dies als eine mehr als berechtigte Frage. Bewusst oder unbewusst addiert man die Pleiten, auch die der letzten Saison!, und schon scheint sich nichts zum positiven zu verändern. Mehrheitlich beziehen wir uns dabei alle auch auf eine boulevardeske Sportberichterstattung, die nur allzu gern auch aus s.g. „Serien“ Schlagzeilen strickt. Der Trainer, der seit x Spielen auswärts nicht gewann, der Torjäger der seit x Minuten nicht traf – man kennt das. Und dann gewinnt der HSV auswärts gegen den BvB. Alle Schlagzeilen, alle Serien wirken plötzlich albern und hinfällig.

Jetzt geht es aufwärts, der sprichwörtliche Knoten scheint geplatzt, denkt man hoffnungsfroh. Doch so einfach ist eben nicht, es folgen weitere Rückschläge. Plötzlich erscheint ein achtbares 0:0 gegen Bayern in der Liga und ein Auswärtssieg gegen zuvor hoch favorisierte Dortmunder fast wertlos. Der Gegner war eben schwach, der HSV keinesfalls tatsächlich gut. Nichts habe sich in  Wahrheit geändert, schon gar nicht zum besseren. Eine Handschrift Zinnbauers sei nicht zu erkennen.

Was als vermeintlich objektive Sachbotschaft daherkommt, ist zunächst nur Selbstauskunft der Verfasser. Oder um es mit einem Zitat Favres zum Fußball-Journalismus auszudrücken: Wer schreibt, was er alles weiß, zeigt immer auch, was er nicht weiß. Das gilt natürlich auch für mich und meine Einschätzung.

Mein Eindruck ist, dass das Erkennen einer s.g. Handschrift des Trainers mehrheitlich über positive Resultate erfolgt. Gewinnt die Mannschaft, glauben fast alle, diese ominöse Handschrift zu erkennen. Verliert sie, dann ist sie angeblich nicht vorhanden. Damit verbinde ich keinen Vorwurf, denn dieses Phänomen ist auch Folge einer größtenteils oberflächlichen, sensationsheischenden medialen Berichterstattung. Und worauf sonst sollte die Meinungsbildung der Masse beruhen?

Tatsächlich belegbar scheint, dass sich Trainerwechsel vor allem kurzfristig auswirken. Auf längere Sicht scheinen u.a. die grundsätzlichen Möglichkeiten ausschlaggebend zu sein, die durch die Zusammenstellung des jeweiligen Kaders vorgegeben werden. Dennoch ist nicht unwichtig, wer eine Mannschaft wie trainiert.

Neben der viel, viel zu lange ungenügenden, systematischen Entwicklung des HSV-Kaders durch einen Sportdirektor, wirkt sich bei der aktuellen Mannschaft in meinen Augen unverändert der Schlingerkurs des Vereins negativ aus. Jeder Trainer der Vergangenheit holte sich sein bevorzugtes Personal, versuchte seine Vorstellungen vom Fußball zu verwirklichen. Beides wurde dann vom jeweiligen Nachfolger mit zum Teil grotesken Folgen über den Haufen geworfen. So besteht der aktuelle Kader unverändert aus Spielern, die nicht nur die finanzielle Bilanz belasten, sondern deren sportlicher Nutzen für das, was der Club nunmehr angestrebt, ungewiss erscheint. Ein konzeptioneller, kostenintensiver Flickenteppich. Insofern bin ich der Meinung, dass der Verweis auf den angeblich fünftteuersten Kader der Liga in die Irre führt.

Jeder Trainer hat nicht nur Spuren bei der Zusammenstellung des Kaders hinterlassen. Auf den Ballbesitz orientierten Fußball Finks folgte, klammern wir das Intermezzo van Marwijk einmal aus, der das schnelle Umschaltspiel favorisierende  Slomka. Dessen Nachfolger Zinnbauer bekennt sich nun wieder zu einer dominant-offensiven Spielweise. Dabei ist zu berücksichtigen, dass hier das Übel nicht nur in einer grundsätzlich widersprüchlichen taktischen Ausrichtung zu vermuten ist. Der Teufel lauert auch im Detail. Schon die Viererkette kann man auf unterschiedliche Weise spielen lassen. Auch Raumdeckung ist nicht gleich Raumdeckung usw. usf.

Nicht von ungefähr, ich erwähnte dies in einem meiner vorangegangenen Einträge bereits, stellte der Trainer des SC Freiburg, Christian Streich, fest, dass es Jahre benötige, um einer Mannschaft ein System tatsächlich zu vermitteln. Bis dahin, so füge ich hinzu, lässt sich u.a. ein Phänomen menschlichen Lernens beobachten. Denn Training ist auch systematisches Lernen unter kontrollierten Bedingungen.

Bevor ein bestimmtes Verhalten in Fleisch und Blut übergeht und damit auch unter Wettkampfdruck konstant abgerufen werden kann, erfolgen Zwischenschritte. Beispielsweise klappt etwas bereits im Training, kann aber unter dem ungleich höheren Stress des realen Wettkampfes noch nicht, jedenfalls nicht stabil, umgesetzt werden. Wenn ich zudem einen Kader, und dies ist für einen Teil des aktuellen HSV m.E. zu unterstellen, sowohl in der grundsätzlichen Ausrichtung als auch im Detail mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen konfrontiere, dann bleiben auch Lerninhalte z.T. bruchstückhaft oder gar widersprüchlich. Wenn ich also grundsätzlich für Kontinuität plädiere, dann nicht um ihrer selbst willen. Zinnbauer hat auch für mich keine Narrenfreiheit. Man kann aber nicht jahrelang zurecht die permanenten Trainerwechsel kritisieren und nun schon wieder einem Trainerwechsel das Wort reden.

Ich bleibe dabei: Bayern darf nicht der Maßstab für den HSV sein. Bis der HSV auch nur annähernd mit dem Branchenprimus konkurrenzfähig sein wird, vergehen noch Jahre. Mehrere Jahre. Wer daher beklagt, dass man mit einer 1:3-Niederlage bereits zufrieden sei, der verkennt vollkommen, dass es sich bei der angeblichen Ausgeglichenheit der Bundesliga um eine durchsichtige Marketing-Lüge handelt. Die Bayern sind dem Rest der Liga vollkommen enteilt.

Ob nun Tuchel, Hiddink, Mourinho, Magath oder Zinnbauer – wer glaubt, dass sich durch Handauflegen vermeintlicher Wundertrainer der Erfolg einstellt, der irrt in meinen Augen. Gründlich.

Die Bundesliga, auch dies bleibt selbstverständlich unbestreitbar, wartet auf niemanden. Zinnbauers Arbeit bleibt daher auch von Resultaten abhängig. Um seine Arbeit jedoch tatsächlich bewerten zu können, sollte man eine Vielzahl von Faktoren zur Kenntnis nehmen, die sich dem Außenstehenden im Regelfall entziehen. Ich reklamiere für mich keineswegs, unzweifelhaft im Besitz der letzten Wahrheit zu sein. Gleichwohl verweise ich darauf, dass die Dinge vielschichtiger und deutlich komplizierter liegen, als es so mancher, aus welchen Motiven auch immer, wahrhaben möchte. Skepsis scheint mir angebracht, Hysterie jedoch nicht.