Kreuzer

Hamburger SV – Anamnese eines Patienten (Teil 1)

In diesem Artikel möchte ich versuchen, einen Diskussionsbeitrag zur Vereinskultur des Hamburger Sportvereins zu beginnen. Wer die Ereignisse beim HSV in den letzten Jahren intensiver verfolgt hat, dem sollte m.E. klar geworden sein, dass es weder mit einigen Rücktritten im Aufsichtsrat noch allein mit einer Strukturveränderung, gleich wie diese am Ende auch ausfallen mag, getan sein kann. Notwendig erscheint vielmehr, dass der Verein endlich, endlich verbindlich definiert, wer, was, oder wie er sein will. Doch bevor man zu entsprechenden Vorschlägen kommen kann, muss zunächst die Ausgangslage untersucht werden.

Hier einige Schlaglichter, die m.E. symptomatisch für den derzeitigen Ist-Zustand sind:
1. fast zwei Jahre meinte der Erstligist HSV, er könne auf die kontinuierliche, konzeptionelle Planung und Fortentwicklung seiner Mannschaft durch einen Sportdirektor verzichten;
2. der ehemalige Spieler Bastian Reinhardt wurde unmittelbar nach seiner Spielerkarriere nacheinander Praktikant auf der Geschäftsstelle, interimsweise Sportdirektor und danach Leiter des Nachwuchsleistungszentrums. (Inzwischen hat auch er beruflich den Verein verlassen).
3. Der Verein beschäftigt mit Mirko Slomka inzwischen den 17. (in Worten: siebzehnten!) Trainer in  vierzehn Jahren;
4. Vorstandsvorsitzender Jarchow äußerte sich wiederholt vollkommen unqualifiziert zur sportlichen Zielsetzung: So verkündete er zu seinem Amtsantritt, man wolle sich in drei Jahren für die CL qualifizieren (das wäre übrigens am Ende dieser Saison gewesen). Dann sah er den Verein zum allgemeinen Erstaunen auf Augenhöhe mit dem FC Schalke 04 und beharrte mit einer im Wesentlichen rein numerischen Argumentation (wer siebter war, muss sechster werden) auf seiner Zielsetzung, als sich längst abzeichnete, dass die Mannschaft in ernste Abstiegsgefahr geraten würde könnte;
5. Sportdirektor Kreuzer, nach öffentlichem Casting vor den Augen des Boulevards verpflichtet, wollte Spieler „definitiv nie wieder“ für den HSV auflaufen sehen. Indem er permanent betonte, dass bestimmte Spieler den Anforderungen des HSVs angeblich nicht genüg(t)en, vernichtete er im erheblichen Maße Marktwerte, bzw. s.g. Stille Reserven, auf die der Verein bilanziell grundsätzlich angewiesen ist. Den ursprüglichen Auftrag, Spieler gewinnbringend oder wenigstens kostenneutral abzugeben, wurde klar verfehlt. Bereits vor der Saison beging er gröbste Anfängerfehler, indem er ohne jede tatsächliche Not bereits in der Saison-Vorbereitungsphase im Wochentakt verbal allerschwerste Kaliber verfeuerte. Als die Lage dann kritisch wurde, war sein rhetorisches Arsenal praktisch leer;
6. Der aktuelle Aufsichtsratsvorsitzende, Jens Meier, behauptete unlängst, er habe mit den Mitgliedern des von ihm geleiteten Gremiums „vertrauensvoll zusammengearbeitet“. Praktisch im selben Atemzug erwähnte er allerdings, dass noch während laufender Sitzungen der Räte Interna per SMS von Ratsmitgliedern nach außen durchgesteckt wurden;
7. Mindestens ein Aufsichtsrat fiel wiederholt durch einen außerordentlichen Mangel an Entschlusskraft und Konsequenz auf, indem er mehrfach seinen Rücktritt ankündigte, ohne ihn auch unverzüglich zu vollziehen. (Gratulation: im x-ten Anlauf hat er inzwischen sein Amt aufgegeben);
8. Diverse Aufsichtsräte haben sich in der Vergangenheit untereinander mindestens mit juristischen Auseinandersetzungen gedroht;
9. Ob nun Informationsgespräche, Sondierungsgespräche oder konkrete Vertragsverhandlungen – die Gespräche des Aufsichtsrates mit Felix Magath sind als Eingriff in das allein dem Vorstand zustehende operative Geschäft zu werten und begründen mindestens den Anfangsverdacht eines klaren Satzungsverstoßes. Eindeutig sind sie eine Offenlegung fehlender eigener sportlicher Kompetenz.

Diese Liste ist keineswegs abschließend gemeint (leider könnte man sie mühelos fast ins Unendliche verlängern.). Sie soll nur annähernd die folgende These stützen:

Das Erscheinungsbild des Hamburger Sportvereins als Ganzes und das Leistungsbild seiner Repräsentanten bleiben seit langer Zeit Lichtjahre hinter dem eigenen hohen Anspruch, nämlich tatsächlich ein Spitzenverein der Bundesliga zu sein, deutlichst zurück und werden vielmehr durch die prekäre sportliche Entwicklung durchaus angemessen repräsentiert gespiegelt.

Tatsächlich zeichnete der HSV, allen voran seine Gremien, seit Jahren ein erbärmliches und für seine Fans und Mitglieder beschämendes Bild haarsträubender Zerrissenheit, Geschwätzigkeit und Inkompetenz seiner selbst. Es scheint eine erhebliche Differenz zwischen Eigenwahrnehmung („gute Zusammenarbeit“; „beneidetes Vorbild in Europa“) und absolut desaströser Außenwirkung zu bestehen. Sportliche Ziele werden mit beängstigender Regelmäßigkeit ebenso verfehlt, wie es nicht gelingt, über längere Zeit für Ruhe im Verein und seriöse Konzepte zu sorgen, die dann nachfolgend auch kontinuierlich verfolgt werden. Plan- und Konzeptlosigkeit spiegeln sich in fortwährenden personellen Umbesetzungen und Kurswechseln (Beispiel NLZ: Siegenthaler, Meier, Congerton, Reinhardt, Schröder). Führungspositionen verkommen zum Ausbildungsplatz für überforderte Nachwuchskräfte und sportliche Laiendarsteller. Die Raute steht zwar für eine insgesamt beachtliche sportliche Tradition, bildet jedoch zugleich nur einen vagen gesellschaftlichen Minimalkonsens ab, unter welchem sich höchst unterschiedliche Gruppierungen mit unterschiedlichsten Zielen versammeln:

Das Vereinsestablishment, darunter verstehe ich langjährig aktive Mitglieder (Sport und Ehrenamt) betrachtet den Verein als eine Art „Privateigentum“. Zehntausende neue Mitglieder werden als Mitglieder zweiter Klasse belächelt, bzw. nur als „Premium-Kunden“ (Zitat: D. Jovanov) wahrgenommen, die ohnehin angeblich nicht ausreichend informiert sind. Repräsentiert wird die Gruppe in meinen Augen u.a. durch Seeler, Bähre und Hunke;
Der Supporters Club (SC) hat sich von einer Mitgliedervertretung für alle Mitglieder zu einem Staat im Staate entwickelt, in welchem eine eindeutige Minderheit eine einseitige Klientelpolitik zu eigenen Gunsten betreibt. Zum Teil mit inhaltlichen Querverbindungen und Übereinstimmungen zur Ultra-Ecke. Prominenteste Repräsentanten: Ertel, Bednarek, Liebnau;
Die im Zuge des Mitgliederbooms weit überwiegende Mehrheit zehntausender „neuer“ Mitglieder blieb jahrelang unbeachtet. Meinungsumfrage? – Fehlanzeige! [Anm.: Man beachte den Einwand im Kommentarbereich und meine Replik] Gleichwohl scheint sich hier der größte Teil, das legt das Abstimmungsverhalten auf der letzten MV zu HSVPlus nahe, in dem u.a. von Otto Rieckhoff vorgelegten Konzept wiederzufinden. Gleichwohl, das zeigte die Debatte um eine mögliche Rückkehr Felix Magaths, ist die inhaltliche Positionierung keineswegs homogen, sondern zum Teil widersprüchlich. Einigender Minimalkonsens hier: Man will endlich, endlich wieder einen erfolgreichen HSV. Hier besteht wenigstens teilweise eine Schnittmenge zum Establishment, das zum Teil aber auch zugleich im Falle einer Ausgliederung einen schwindenden eigenen Einfluss auf „seinen“ Verein befürchtet.

Fazit: der Verein mäandert weitestgehend führungs- und konzeptlos in einer Wettbewerbssituation, die u.a. durch hohe Leistungsdichte und schärfste Konkurrenz gekennzeichnet ist, und der auf Dauer nur durch Exzellenz auf allen Ebenen erfolgreich zu begegnen wäre. Sozio-strukturell lassen sich mindestes drei verschiedene Gruppierungen ausmachen. Unterschiedlichste Gruppen zerren den Verein in teilweise völlig gegensätzliche Richtungen. Dabei werden eigene Interessen beinahe permanent über das Gemeinwohl des Vereins gestellt, was u.a. zu regelmäßigen Intrigen und fortlaufenden Indiskretionen führt.

Bevor ich in einem folgenden Beitrag versuche, zukünftige Leitsätze zu erarbeiten, würde mich interessieren, wie Ihr den HSV wahrnehmt. Denn wenn man sich bereits über die Symptome nicht einig ist, wird jede Therapie problematisch.

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Spielbericht: Hamburger SV – BvB Dortmund (3:0)

Aufstellung: Adler, Westermann, Djourou, Rajkovic, Jansen, Badejl, Rincon, Calhanoglu, Arslan, Jiracek, Lasogga (86. Zoua)

Schiedsrichter: Brych

Spielbericht: Endlich! Ich kann Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin! Was für ein Spiel dieser schon fast abgeschriebenen und mitleidig belächelten Hamburger Mannschaft! Und was für ein Hamburger Publikum, was für Fans! Zum ersten Mal seit langen Wochen bin ich einfach nur glücklich und stolz, ein Anhänger dieses Vereins zu sein. Zum ersten Mal nach langen, bitteren Wochen freue ich mich auf die Sportschau und dann das Aktuelle Sportstudio später am Abend. 3:0 gewonnen – zu null! – ein Traum, oder?!

Der HSV spielte wie angekündigt mit Trauerflor zu Ehren von Hermann Rieger. Vor dem Spiel gab es eine tolle Choreo zu sehen: Die Tribüne, eine schwarze Wand durch hochgereckte schwarze Papiertafeln mit einem übergroßen Portrait des Verstorbenen. Darunter ein riesiges Spruchband mit der Aufschrift: „Für immer bester Mann, den niemand je ersetzen kann!  – Hermann Rieger R.I.P.!“. Das war toll, einfach grandios, denn es galt zu Recht einem famosen Menschen, der in unser aller Herzen weiterleben wird. Nach der Schweigeminute brandete sofort lautstarker Applaus auf, und ich meinte einen Spirit zu spüren, der da plötzlich einfach in der Luft lag: Absolute Entschlossenheit und Gemeinschaft. Endlich.

Die Tore sind schnell erzählt. Beim 1:0 (41.) setzt sich Lasogga gegen mehrere Dortmunder rechts neben derem Tor im Strafraum durch und bringt die Flanke nach innen. Jiracek köpft oben links ins Tor – die Führung. Und die war zu diesem Zeitpunkt keineswegs unverdient. Die Mannschaft hatte vom ersten Moment leidenschaftlich gekämpft. Auch und vor allem Rajkovic (nach langer, langer Zeit wieder im Kader und gleich in der Startelf) und Jiracek kämpften, wie alle anderen auch, wie ein halb verhungertes Löwenrudel um das letzte Stück Fleisch. In der 58. Minute, nachdem sich bereits Calhanoglu im Mittelfeld fast durchgesetzt hatte, sicherte sich Arslan den Ball und schickte Lasogga allein auf die Reise. Der lief dann mutterseelenallein auf Weidenfeller zu und schoss an ihm vorbei rechts flach ins Tor. 2:0 – sagte ich nicht voraus, dass auch gegen die Dortmunder etwas möglich sein kann, wenn man wirklich daran glaubt?  In der Folge versuchte der BvB u.a. über den zur Pause für Bender eingewechselten Reuss Druck zu erzeugen, aber mit Glück, leidenschaftlichem Kampf und Geschick hielten die Hamburger dagegen. Was dennoch auf ’s Tor kam, wurde vom dieses Mal grandios haltenden Adler entschärft. Gänsehaut kam dann endgültig auf, als das Publikum im Gefühl des Sieges um die achtzigste Spielminute minutenlang „Hermann Rieger“-Gesänge anstimmte. Auch das war berührend und eine hochverdiente Ehrenbezeugung für diesen großen HSVer. Den passenden Schlusspunkt setzte Calhanoglu, der in der 90+1. Spielminute aus ca. 40(!) Metern einen Freistoß direkt verwandelte. Weidenfeller stand etwas zu weit vor seinem Tor und war, obwohl der Ball eine gefühlte halbe Stunde in der Luft war, letztlich chancenlos. Links oben schlug der Ball über dem Torhüter ins Gehäuse ein. Der Rest war kollektiver Jubel.

Eine Einzelbewertung will ich bewusst nicht vornehmen, da alle, wirklich alle Spieler vorbildlichen Einsatz gezeigt haben. Besonders freut mich allerdings die Leistung der bisher weitestgehend ver- und geschmähten Rajkovic und Jiracek. Ein Lob also für alle: das Publikum, die Choreo, die gesamte Mannschaft und den Trainer. Sehen konnte man aber auch, was alles möglich ist, wenn man Überzahlsituationen in Ballnähe schafft und dabei mit absoluter Entschlossenheit in die Zweikämpfe geht. Über den Kampf zum Spiel – mit dieser phrasenhaften Formulierung hatte ich im letzten Blog geendet. Und die Mannschaft hat genau dies heute geschafft. Plötzlich sah man auch wieder Spielzüge,  von denen wohl viele schon glaubten, dass sie von dieser Mannschaft nicht mehr zu erwarten seien.

Fazit: Der HSV siegt am Ende auch in der Höhe verdient. Die Mannschaft scheint nicht nur begriffen zu haben, wie ernst die Lage ist, sondern sie hat heute auch die Blockade im Kopf überwunden und sich förmlich in die Partie gebissen. So geht Abstiegskampf! Wenn diese Leistung konserviert werden kann, dann kann man auch in die nächsten Spiele mit Zuversicht hineingehen. Dann, aber nur dann!, werden wir mit dem Abstieg am Ende der Saison nichts zu tun haben. Jetzt darf für einen Abend gefeiert werden. Schon morgen aber muss weiter hart gearbeitet werden. Slomka ist beim 4-4-2 mit s.g. flacher vier (zumindest gegen den Ball) geblieben. Richtig so. Und Slomka hat den Mut gehabt, den von Kreuzer nach dessen Worten endgültig (auch) aussortierten Rajkovic zu reaktivieren. Dieser dankte es ihm wie der ebenfalls bisher nur sporadisch eingesetzte Jiracek mit einer famosen Leistung. So haben wir also nicht nur drei ganz wichtige Punkte und neue Zuversicht gewonnen, sondern auch zwei echte Alternativen im Kader, die, wenn sie so weiter spielen, weit mehr sind, als nur Alternativen.

Ergänzung: Schiedsrichter Brych hätte Aubameyang in der 55. Minute nach einem brutalen Tritt gegen Arslan auch die Rote Karte zeigen können, möglicherweise sogar müssen. Auch sonst lag das von ihm geleitete Gespann u.a. bei Abseitsentscheidungen nicht immer richtig.