VfL Wolfburg

Strahlkraft aus Tradition vs. gekaufte Strahlkraft: HSV – VfL Wolfsburg

+++ AKTUALISIERUNG: Westermann wird spielen. Laut HSV.de hat es bei Badelj doch nicht gereicht. Er ist angeblich nicht im Kader. Außerdem hatte ich in meiner erwarteten Aufstellung Zoua gleich zweimal drin. Da das den guten Jacques überfordert, habe ich die Prognose korrigiert. Sorry! +++

Bevor ich mich hier mit der kommenden Partie beschäftige – einen herzlichen Glückwunsch an Tayfun Korkut und Hannover 96! Die „96er“ haben die Gunst der Stunde nach dem Sieg über den Hamburger Sportverein nutzen können und legten gestern Abend mit einem 2:3 Auswärtssieg bei der Eintracht aus Frankfurt nach. Mit nunmehr 35 Punkten sollte der Abstieg der Niedersachsen aus der Eliteliga kein Thema mehr sein.

Der HSV empfängt am Samstagabend einen anderen Verein aus Niedersachsen,  den VfL Wolfsburg. Das gibt mir die Gelegenheit, mich zu einer Thematik zu äußern, die unter Fußballfans in Deutschland regelmäßig zu Kontroversen führt: Traditionsvereine vs. Kunstprodukte. Wobei Anhänger der „Wölfe“ vermutlich jetzt schon wütend aufheulen, wenn ich ihren Verein in diesen Zusammenhang stelle.

Ich gestehe, ich kann mich zu dieser Thematik nicht échauffieren. Natürlich sind es Marketinggründe, wenn sich ein Verein wie die TSG Hoffenheim auf eine Tradition beruft, die angeblich bis 1899 zurückreicht. Tatsächlich, das ist m.E. unbestreitbar, ist der Verein bundesweit erst durch das Engagement des SAP-Mitgründers, Dietmar Hopp, nennenswert in Erscheinung getreten. Erst die Millionen, die Hopp in den Verein investierte, erlaub(t)en den Hoffenheimern im Konzert der Großen mitzuspielen. Ohne dessen Moos – nichts los im beschaulichen Sinnsheim. Aber, und das finde ich an dem Projekt „TSG“ spannend, man hat das Geld von Hopp meist klug und nachhaltig investiert. Mit Ralf Rangnick, einem wenn nicht gar dem größten Visionär unter den deutschsprachigen Trainern, gelang der TSG seinerzeit der Durchmarsch in die Bundesliga. Dazu hatte man den Mut, mit dem ehemaligen Hockey-Nationaltrainer, Bernhard Peters, einen Nicht-Fußballer ins Boot zu holen. Ich behaupte, beide Personalien zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie dem traditionell erzkonservativen deutschen Fußball wichtige Impulse gegeben haben. Rangnick etwa hatte schon mit dem SSV Ulm bewiesen, was bis dato als unmöglich galt: dass man mit einer deutschen Fußball-Mannschaft sehr wohl erfolgreich die Viererkette spielen lassen kann. Der kongeniale Peters dürfte n.v.m. mitbewirkt haben, dass ein im Feldhockey längst bekanntes taktisches System, das 4-1-4-1, auch im Fußball Einzug fand. Auch trainingsmethodisch kamen aus Sinnsheim wichtige Anregungen. So ließ man u.a. die eigenen Stürmer immer wieder neue, unvorhergesehene „Probleme lösen“, statt ihnen feste Spielzüge vorzugeben. Auch der Blick über den Tellerrand des Fußballs, z.B. zum Futsal, oder durch die konsequente Einbeziehung der Sportpsychologie, war bei den Hoffenheimern längst Usus, während die etablierten Traditionsvereine z.T. noch mit Konditionsgebolze ohne Ball in der Steinzeit der Trainigsmethodik verweilten. Was mich also für einen Emporkömmling wie die TSG einnimmt, ist der Inhalt, nicht die Verpackung. Und seien wir ehrlich – ein Bißchen mogeln gehört bei der Geburtszahl dazu. Der Hamburger SV beruft sich bei seinem angeblichen Gründungsdatum 1887 auch auf einen Vorgängerverein. (Der HSV wurde tatsächlich erst am 2. Juni 1919 gegründet.) Im Übrigen ist Tradition etwas, was im Laufe der Zeit entsteht und nicht per se gegeben ist. Wenn etwas aber erst entstehen muss, dann muss es prinzipiell auch einen Anfang nehmen dürfen. Das reine Gejammer, die Anderen hätten keine Tradition, ist die Klage von Besitzstandswahrern, die verkennen, dass sich auch ihre Tradition erst entwickeln musste.

Etwas anders verhält es sich aus meiner Sicht mit Vereinen wie RB Leipzig oder dem VfL Wolfsburg. Mag man sich in der Region um Leipzig noch auf eine ruhmreiche Tradition vornehmlich aus Vorkriegs- (VfB Leipzig) oder DDR-Zeiten (1. FC Lokomotive Leipzig) berufen, so ist der VfL in meinen Augen ein tatsächliches Beispiel für einen „Plastikclub“. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Ohne den VW-Konzern gäbe es die ganze Stadt in dieser Form gar nicht und auch nicht den Verein. Ohne VW wäre nordöstlich von Braunschweig „tote Hose“, Tristesse pur. Bis Anfang der 1990er Jahre dümpelte man in der relativen sportlichen Bedeutungslosigkeit der damaligen Oberliga Nord. Erst als der VW-Konzern aus marketingtechnischen Gründen entschied, sich verstärkt finanziell im VfL zu engagieren, gelang den Wolfsburgern der Aufstieg in den bezahlten Fußball. Der Volkswagenkonzern ist es, der das ganze Konstrukt am Leben erhält. Mit VW im Rücken konnte man sich Magath und dessen berühmt-berüchtigten Einkaufsorgien leisten, ohne umgehend Insolvenz anmelden zu müssen. Die Meisterschaft 2008/09 – ein Geschenk des Automobilkonzerns an „seine“ Stadt. Der sportliche Erfolg war zweifellos verdient und soll nicht in Abrede gestellt werden. Er ist aber dahingehend zu relativieren, dass er dem Verein aus eigener Kraft höchstwahrscheinlich niemals gelungen wäre.

Natürlich, auch der Hamburger Sportverein ist Werbeträger für seine diversen Partner, schon lange. Und natürlich bleibt die Finanzierung eines wettbewerbsfähigen Kaders auch in Hamburg von externen Geldern abhängig – wer wüsste das nicht, in Zeiten der Debatte über eine Strukturveränderung. Aber der HSV war nie (und wird es auch hoffentlich in Zukunft nie sein!) abhängig allein von den konzernstrategischen Entscheidungen der Vorstandsetage eines einzigen Konzerns. Tradition steht in Hamburg, so könnte man es wohl formulieren, auf mehreren Füßen, nicht auf einem. Und es ist die Strahlkraft der Stadt Hamburg in Verbindung mit der Vereinsgeschichte, die den Verein für Werbepartner interessant macht. In Wolfsburg hingegen entsteht Strahlkraft des Vereins, einer grundsätzlichen grauen Maus, allein, weil es der Volkswagenkonzern so entschieden hat. Ähnliches trifft auf internationaler Ebene z.B. auch auf das Kunstprodukt PSG (gegründet 1970) aus Paris zu. Allein durch den  Einstieg des Investors, der QTA (Tourismusbehörde Katars), kann man sich dort Stars wie Ibrahimovic leisten und spielt urplötzlich in der Bellétage des Fußballs, der ChampionsLeague, eine ernstzunehmende Rolle. Vor QTA war PSG eher ein Synonym für Misswirtschaft, Inkompetenz und dümpelte in der sportlichen Bedeutungslosigkeit. Insofern verwundert es schon, wenn manche Traditionalisten in Deutschland die TSG 1899 Hoffenheim schmähen, gleichzeitig aber PSG die Daumen drücken, weil der Ibrahimovic ein toller Kicker ist.

Zurück zum kommenden Gegner, dem VfL Wolfsburg. Sportlich, das respektiere ich, hat man nach der missglückten Rückholaktion mit dem ehemaligen Meistermacher Magath die Kurve bekommen. Dieter Hecking ist ein Trainer, den ich mir grundsätzlich auch beim HSV vorstellen könnte. Unter Hecking ist der VfL dabei, sich in der Spitzengruppe der Bundesliga dauerhaft zu etablieren. Waren es bislang der FCB, BvB, Bayer04 und Schalke, die die vordersten Plätze ausspielten, so klopfen mit der Borussia aus ‚Gladbach und dem VfL Wolfsburg zwei weitere Vereine mit Nachdruck an die Tür und begehren Einlass in den illustren Kreis. Auch etwas, was man als Hamburger tunlichst bedenken sollte, wenn man meint, der HSV müsse ins internationale Geschäft.

Hecking lässt den VfL gewöhnlich in einem 4-2-3-1 antreten. Ganz vorne spielt der auch beim HSV bestens bekannte Olic. Dahinter links Perisic, zentral das deutsche Supertalent, Maximilian Arnold und rechts der ebenfalls hochbegabte Belgier, Kevin De Bruyne. Der eine Sechser, der Brasilianer Luiz Gustavo, hat internationale Klasse. Sein Partner war zuletzt der junge Belgier Malanda, der aber zum Glück für den HSV mit einer Kreuzbandzerrung ausfällt. Seinen Platz könnten  Marcel Schäfer oder Daniel Caligiuri einnehmen. Die Stärken des VfL liegen, darauf wies Slomka zurecht in der PK zum Spiel hin, eindeutig in der Offensive. Insbesondere die vier Offensivspieler sind sehr lauffreudig und rochieren auf den Positionen. Die Hamburger werden defensiv also konsequent und diszipliniert verschieben müssen. Und vor allem müssen die Räume eng gehalten werden, damit man überhaupt Zugriff auf das Spiel bekommt. Auch sollte man Freistöße für den VfL vor allem im zentralen Raum vor dem Tor unbedingt vermeiden. Arnold und vor allem der vom BvB verpflichtete Innenverteidiger Naldo  können hart und präzise aus der Distanz schießen. Wer einen der Beiden ab 25 Meter vor dem Tor zum Abschluss kommen lässt, ist selber schuld.

Keine Frage, das wird ein hartes Stück Arbeit für den bekanntlich angeschlagenen HSV. Wenn ich die jüngsten Meldungen aus Hamburg richtig deute, dann werden Badelj und Westermann beide auflaufen, wenn es denn irgendwie geht. Erfreulicherweise steht mit Kerem Demirbay eine Alternative für Badelj grundsätzlich wieder zur Verfügung. Da der Spieler aber eine lange Verletzungshistorie hinter sich und demzufolge keine Spielpraxis hat, gehe ich nicht davon aus, dass ihn Slomka in die Startelf stellen wird, sollte es bei Badelj doch nicht reichen (Entscheidung fällt heute). Ich gehe also von folgender Aufstellung des Hamburger Sportvereins aus:

Adler – Diekmeier, Djourou, Mancienne, Westermann – Calhanoglu, Badelj (Rincon), Arslan, Jiracek – Ilicevic – Zoua

Abhängig vom Spielverlauf dürften sich  Maggio, Tesche und Demirbay Hoffnungen auf einen (Kurz-)Einsatz machen.

Hoffen wir, dass es dem HSV erneut zu Hause gelingt, gegen einen auf dem Papier stärkeren Gegner zu punkten. Möglich ist es! Das haben die Siege gegen den BvB und Leverkusen bewiesen.

Schiedsrichter der Partie ist Herr Sippel aus München.

Schlechte (und gute) Nachrichten

Was macht man dieser Tage als HSV-Anhänger? Man blickt wohl mit Bangem dem jeweils nächsten Spieltag entgegen. Immer wieder fällt der Blick auf das Restprogramm, und nach jedem Spiel sofort auf die Tabelle. Punkteabstände und Tordifferenzen werden begutachtet, Szenarien durchgespielt und wieder verworfen. Nach jedem Sieg (Leverkusen) steigt die Hoffnung, nur damit sie nach jeder Niederlage, besonders wenn sie so ernüchternd daherkommt wie gegen Hannover, wie ein Kartenhaus zusammenfällt. Nur gut, dass auch die Konkurrenten regelmäßig Federn lassen. So gibt es unverändert eine Chance auf den Klassenerhalt, wenn auch der Druck auf alle Beteiligten stetig steigt.

Ich hatte jüngst gemutmaßt, dass Lassoga dem HSV frühestens zum Saisonfinale wieder zur Verfügung stünde. Inzwischen heißt es, Lasogga könnte, wenn überhaupt, in den Relegationsspielen zum Einsatz kommen, sofern der HSV am Ende wenigstens Platz 16 belegt. Das sind wahrlich keine guten Nachrichten. Überhaupt mangelt es derzeit nicht an schlechten Nachrichten:

Westermann ist angeschlagen, will aber unbedingt im nächsten Spiel auflaufen. Ich bin hin und hergerissen, ob ich das gut finden soll. Einerseits finde ich es absolut lobenswert, dass er sich in dieser für den HSV inzwischen fast beispiellos prekären sportlichen Lage zur Verfügung stellen will, andererseits brauchen wir fitte Spieler, um im Restprogramm bestehen zu können. Und nicht ausgeheilte, kleinere Verletzungen bergen ja immer die Gefahr, dass sich daraus etwas Schlimmeres entwickelt. Jansen steht aber noch nicht wieder zur Verfügung, Lam fällt bis zum Saisonende definitiv aus, so bliebe links außen in der Abwehrkette eben nur Jiracek als Alternative. Davor, also links offensiv, steht gerade wieder Ilicevic zur Verfügung, der aber ebenfalls unverändert angeschlagen ist, und bei dem aufgrund seiner Verletzungshistorie zumindest bezweifelt werden kann, ob er den Rest der Saison durchhält.
Badeljs Muskelfaserriss scheint ebenfalls nicht komplett ausgeheilt zu sein. Auch wenn hier wohl eine gewisse Hoffnung besteht, dass er gegen den VfL Wolfsburg eventuell spielen könnte – aus einem Faserriss entwickelt sich u.U. ein Muskelbündelriss, der dann ebenfalls das Saisonaus für Milan bedeuten würden. Wenn auch das Spiel gegen „96“ erneut aufgezeigt hat, dass das Duo Rincon/Arslan suboptimal funktioniert und nach Veränderung schreit, bin ich der Meinung, dass Badelj  derart wichtig für das Spiel des Hamburger Sportvereins ist, dass man einen längeren Ausfall mit Blick auf die verbleibenden Spiele nicht riskieren sollte. Aber zum Glück muss ich diese Entscheidung ja nicht fällen.
Nach Lage der Dinge ausgeschlossen soll ein Einsatz von van der Vaart im nächsten Spiel sein. Der Niederländer soll sich ebenfalls mit muskulären Problemen herumschlagen.

Es liegt in der Natur der Sache. Abstiegskampf bedeutet Existenzkampf, also Stress ohne Ende. Das trifft nicht nur die Spieler und Verantwortlichen im Verein, sondern auch die Anhängerschaft. Und so kann es nicht verwundern, dass längst Stimmen laut wurden, die den HSV bereits abgestiegen sehen. Generell gilt, dass Menschen unterschiedlich mit Stress umgehen. Dabei ist zu beachten, dass Stress, auch wenn er in der deutschen Sprache gewöhnlich mit negativem Unterton versehen ist, ansich nichts Schlimmes ist. Im Gegenteil! Es kommt allein auf dessen Ausmaß, bzw. die eigenen Fähigkeiten (Ressourcen) des Einzelnen an, mit denen er/sie ihm begegnet. Fühle ich mich dem Stress absolut  gewachsen, so ist er sogar positiv, da er leistungsfördernd wirkt. Nur wenn die stressende Situation als ausweglos und übermächtig empfunden wird, spricht man von Negativem Stress. Letzteres ist regelmäßig gemeint, wenn psychologische Laien über Stress klagen. Und in der Tat macht dieser Stress auf Dauer krank. Eine entscheidende Rolle spielt also die eigene Einstellung.

Es gibt viele Menschen, die eine spezielle Strategie im Umgang mit unangenehmen und ggf. angstauslösenden Dingen in ihrem Leben entwickelt haben. Sie tendieren dazu, jeweils den „worst case“ vorwegzunehmen, also das denkbar schlimmste Szenario. Auf den HSV übertragen hieße dies, ich erkläre den Verein als bereits abgestiegen, obwohl das unbestreitbar objektiv nicht zutrifft!, damit mich ein realer Abstieg emotional nicht mehr so trifft. Im Grunde handelt es sich hier also um so genanntes „Coping“. Ein Vorteil dieser Bewältigungsstrategie könnte sein, dass der Betreffende auch im Falle des realen Abstiegs handlungsfähig bleibt, da er sich ja schon seit Wochen mit diesem Szenario auseinandergesetzt und es als unvermeidlich akzeptiert hat. Diese Coping-Strategie hat aber auch diverse Nachteile:

1.) ich suche nicht länger nach Alternativen, um das Schlimmste zu vermeiden, da ich dessen Eintritt ja bereits im Kopf als vermeintlich alternativlos akzeptiert habe;
2.) ich mobiliere auch nicht mehr alle meine Kräfte, um mich gegen dieses fiktive(!) Szenario zu stemmen, denn ich meine ja zu wissen, dass es so kommen muss und wird, egal was ich noch versuche;
3.) weil ich das Negative im Kopf bereits vorwegnehme, steigt dessen Eintritts-Wahrscheinlichkeit (Teufelskreis). ERGÄNZUNG: Das hat dann ggf. den Vorteil, dass ich mich in meiner negativen „Expertise“ bestätigt sehe.

Grob gesagt kann man ganz allgemein Menschen in zwei Gruppen unterteilen: in s.g. „lageorientierte“ und „handlungsorientierte“ Menschen. Während die Lageorientierten angesichts einer Problemstellung zum Nachdenken bis zum Grübeln neigen, agieren die Handlungsorientierten, d.h. sie gehen das Problem unverzüglich an. Beides hat Vor- und Nachteile. Der Lageorientierte prüft sorgfältig alle erdenklichen Lösungsalternativen, vergisst dabei aber unter Umständen, dass das Nachdenken allein ohne konkrete Handlungsschritte das Problem nicht löst. Der Handlungsorientierte hingegen ist auf dem Weg zur Problemlösung zunächst erfolgreicher, da er unmittelbar etwas unternimmt, läuft aber ggf. Gefahr, die bessere Alternative zu seinem spontanen Lösungsansatz zu übersehen.

Fußball ist als schnelle Mannschaftssportart für lageorientierte Menschen eher ungeeignet. Wer zu lange abwägt, ob er diesen oder jenen Mitspieler anspielen, ob er den Torwart umspielen oder überlupfen soll, dem geht der Ball verloren, bzw. der versiebt mit größter Wahrscheinlichkeit die Torchance. Das Spiel selbst erfordert, dass man sofort und  intuitiv die richtige Lösung wählt. Diesem unmittelbaren Handlungsdruck sind wir Betrachter jedoch nicht ausgesetzt. Also bewerten wir gewöhnlich das Spiel und nachfolgend die sich daraus ergebende sportliche Situation entsprechend unseren generellen Orientierung (Handlung vs. Lage), bzw. auch in Abhängigkeit von unseren vorhandenen oder nicht vorhandenen Erfahrungen mit Wettkampfsport, also ggf. vorhandenem Hintergrundwissen.

Ich denke, ich gehe nicht zu weit wenn ich unterstelle, dass die Mehrzahl der Zuschauer kaum je in ihrem Leben sportliche Wettkämpfe auf höherem Niveau bestritten haben. Es fehlt also grundsätzlich an eigener unmittelbarer Erfahrung. Dazu gesellt sich, dass man gewöhnlich auf die mediale Berichterstattung angewiesen ist und sich kaum ein eigenes Bild jenseits der Beobachtung der Spiele verschaffen kann. Jede Einschätzung der Situation bleibt also mit vielen, vielen Unsicherheiten behaftet. Unsicherheit oder offene Fragen führen jedoch schnell zu der Empfindung, etwas sei chaotisch. Das menschliche Gehirn aber, das ist evolutionär bedingt, versucht permanent Chaos zu vermeiden, indem es Antworten/Gründe sucht. Dabei erscheint es sogar völlig unbedeutend, ob die Antwort tatsächlich sinnhaft ist. Um ein jüngst andernorts zitiertes Beispiel aufzugreifen:

Schon die Aufforderung „Lassen Sie mich bitte vor, weil ich etwas kopieren muss!“ führt, obwohl sie ansich völlig unverschämt und weitestgehend sinnfrei ist (der andere will ja auch kopieren) dazu, dass man meist den Vortritt erhält. Warum? Weil unser Gehirn unbedingt  Antworten „will“. Die Prüfung, ob eine Antwort tatsächliche Substanz enthält, findet oft gar nicht statt.

Um zur medialen Berichterstattung zurückzukehren, auf die die meisten von uns angewiesen sind: Der SPIEGEL nahm jüngst das angebliche Gehalt von Ilicevic und dessen relativ wenige Einsätze für den HSV zum Anlass, um den Tenor seiner HSV-Geschichte zu würzen: Seht her, für so einen, der so wenig spielt, bezahlen die Idioten in dem Verein so viel Gehalt! Kein Wort darüber, dass der Spieler nicht leistungsbedingt sondern aufgrund diverser Verletzungen auf diese Einsatzzahlen kam. Kein Wort darüber, dass noch kurz vor der damaligen Vertragsunterschrift namhafte Mitkonkurrenten ebenfalls um den Spieler buhlten. Warum auch?! – das hätte doch nur die vermeintliche Schlüssigkeit des Artikels in Frage gestellt. Denn selbst wenn man im Nachhinein zu der Feststellung käme, dass sich das Investment des Vereins nicht gerechnet habe, so ist dies eben eine stets wohlfeile ex-post Analyse. Maßgeblich für die Sinnhaftigkeit oder Unsinnigkeit dieses Vertrages können nur die Bedingungen zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses sein. Und zu jenem Zeitpunkt dürften wohl nicht einmal die sich stets allwissend generierenden Damen und Herren des SPIEGELS gewusst haben, dass der Spieler immer wieder verletzt sein würde. Wetten, dass?! Aber so wird eben Meinung gemacht, bzw. zur Meinungsbildung beigetragen. Auch das beeinflusst uns (notgedrungen), wenn wir die Situation des HSVs einschätzen.

Andere Medienschaffende plärren seit Monaten, dass der HSV zu wenig trainiere. Denn so meint es so mancher Laie zu wissen: Viel hilft immer viel. Diese Behauptung ist zwar in dieser Pauschalität gröbster trainingsmethodischer Unfug, aber darauf kommt es gar nicht an. Worauf es ankommt, ist, dass man genügend „Käufer“ für die These findet. Und diese Behauptung hat einen Vorteil: Sie knüpft an vermeintlich sicheres Alltagswissen der Konsumenten an. Das ersetzt zwar nicht deren fehlende sport-fachliche Qualifikation, liefert aber was? Die so dringend herbeigesehnte Antwort (s.o.). Und dann ist es nicht mehr weit zu folgender Sichtweise:

„Der HSV verliert und steigt ab, weil das alles Söldner sind, denen das Schicksal des Vereins völlig gleichgültig ist, was man u.a. daran sieht, dass die so wenig laufen. Und (ein wenig will der schwelende Sozialneid ja auch mal raus) dafür werden die auch noch so hoch bezahlt?!“

Ach, wenn es doch so einfach wäre! Ähnlich verhält es sich in meinen Augen mit der gegenläufigen These, dass Slomkas Training ursächlich für die inzwischen sich häufenden Verletzungen sei. Zwar ist die Häufung der muskulären Verletzungen in der Tat bemerkenswert, jedoch könnte es dafür andere, ebenfalls plausible Gründe geben. Interessiert aber offenbar nicht. Denn dann könnte man nicht über den Umweg einer fachlichen Dikreditierung des Trainers diejenigen angreifen, die man tatsächlich treffen möchte. Nämlich die Urheber der „Fink und van Marwijk haben die Söldner durch zu lasches Training falsch trainiert“-These.

Wie man es auch dreht und wendet – alle diese Argumentationsmuster haben vor allem einen Vorteil: Tatsächliche Wissenslücken werden unverzüglich überbrückt und sollen die vermeintliche Schlüssigkeit der eigenen Sichtweise untermauern.

Objektiv ist der HSV keinesfalls bereits abgestiegen. Objektiv machen die diversen verletzungsbedingten Ausfälle die unverändert anstehende Aufgabe, den Abstieg zu vermeiden, nicht einfacher. Aber möglich ist dies unverändert. Ob es am Ende gelingen wird, das weiß ich auch nicht. Was ich aber weiß, ist, dass wir mit Sicherheit absteigen werden, wenn wir vorzeitig die Flinte ins Korn werfen, oder uns jetzt auf die Jagd nach den Schuldigen machen, anstatt uns auf diese zweifellos schwierige Aufgabe zu fokussieren. Für den Verein mag es sogar von Vorteil sein, wenn es uns erst im allerletzten Moment, im Rückspiel der Relegation, z.B. durch einen Treffer von Lasogga, gelänge, dieses Ziel zu erreichen. Denn dann dürften wohl selbst die größten Träumer begriffen haben, dass es so mit dem Verein nicht weiter gehen darf. Auch wenn ich mir mitunter wie ein einsamer Rufer in der Wüste vorkomme: Die Hoffnung und der Glaube dürfen erst dann aufgegeben werden, wenn der Klassenerhalt objektiv, d.h. rechnerisch nicht mehr möglich ist. Es bleibt menschlich, wenn man dazu nicht in der Lage ist. Da sagt allerdings dann mehr über den eigenen Umgang mit der Realität als über die Realität ansich aus.