Karius

Auswärtssieg dank der Ungeliebten. FSV Mainz 05 – HSV 1:2 (0:1)

Da ich das Spiel gegen den FC Augsburg nur in einer Zusammenfassung sehen konnte, habe ich bewusst darauf verzichtet, dieses Spiel hier zu kommentieren. Ein Heimsieg erschien zum damaligen Zeitpunkt fast schon als die letzte Chance für den HSV, sofern man doch noch auf den Klassenerhalt hoffen wollte. Zu ernüchternd und desillusionierend hatten die Spiele des HSV unter Interimstrainer Knäbel gewirkt. Ich registrierte also abends hocherfreut das Ergebnis und nahm einigermaßen überrascht zur Kenntnis, dass die bis dato beängstigend harmlose Abteilung Attacke gegen den FCA immerhin dreimal treffen konnte. Bewerten konnte und wollte ich dies aus naheliegenden Gründen aber nicht.

Vor dem nachfolgenden Spiel, in diesem Fall gegen den FSV, war ich einigermaßen skeptisch. Zu oft hat man von Verantwortlichen und Spielern in den letzten Jahren gehört und gelesen, dass man um die große Chance wüsste, dass man nun nachlegen wolle usw. usf. Auf die letzten Jahre bezogen entpuppte sich das dann in aller Regel als hohle Phrase, ja mitunter folgte gerade dann eine erschütternd schwache, enttäuschende Leistung. Fehlende Konstanz auf allen Ebenen, das ist (war?) schließlich eines der wesentlichen Merkmale des HSV.

Labbadia setzte gegen die Mainzer fast auf dieselbe Startelf wie gegen den FCA:

Adler – Westermann, Djourou, Rajkovic, Ostrzolek – N.Müller (39. Jansen), van der Vaart, Kacar, Ilicevic (77. Stieber), Olic (83. Rudnevs) – Lasogga.

Einzige Änderung zur Vorwoche: Nicolai Müller ersetzte Stieber auf der rechten Außenbahn. Ein Schachzug, den ich mehr als plausibel fand. Denn oft sind Spieler in Partien gegen ihren ehemaligen Verein besonders motiviert. Auch der HSV kann ein Klagelied darüber singen. Wenn ich nur daran denke, wie oft uns der ehemalige HSVer und längst Frankfurter Alex Meier abgeschossen hat…

Interessant fand ich die neue Rolle, die Labbadia für den oft enttäuschenden, da viel zu häufig verletzt ausgefallenen Ilicevic gefunden hat. Ivo zentral-offensiv im Mittelfeld als Alternative für den zuletzt gewiss nicht schlechten Stieber – für mich eine etwas überraschende Maßnahme. Weniger überraschend, dass Labbadia – endlich, endlich! – Kacar wieder im defensiven Mittelfeld das Vertrauen schenkte. Für mich war kaum nachvollziehbar, warum man den spielstärksten gelernten Sechser der Mannschaft draußen ließ, während doch ganz offensichtlich war, dass der Mannschaft zuletzt beim Einsatz eines reinen Zerstörers wie Behrami die so eminent wichtigen kreativen Impulse nach vorne fast gänzlich fehlten.

Auch van der Vaart, nominell als zweiter Sechser aufgeboten, spielte deutlich offensiver, wenn ich nicht irre. Umständliches, schematisches Ballabholen als abkippender Sechser, das scheint unter dem neuen Trainer zum Glück der Vergangenheit anzugehören. Raffa sah ich durchweg eher als Achter mit Zug nach vorne agieren, wodurch seine Fähigkeiten deutlich besser zur Geltung kommen.

Die erste Halbzeit ist schnell zusammengefasst: Der HSV spielte diszipliniert, stand defensiv relativ sicher und gewährte den optisch überlegenen Gastgebern nur wenige Torchancen. Auch wenn den Hamburgern nicht alles gelang, so war bereits nach zwanzig Minuten eindeutig zu erkennen, dass Labbadias Maßnahmen das Offensivspiel deutlich verbessern konnten. Kacar stopfte unermüdlich Löcher und war stets dort, wo er gebraucht wurde. Van der Vaart spielte nicht länger den Solisten, hinter dem sich mancher seiner Kollegen in der Vergangenheit versteckte. Und Ilicevic spielte als „Zehner“ als wäre dies seit Jahren seine angestammte Rolle beim HSV. Auch Lasogga wurde mehrfach gut ins Spiel einbezogen und konnte dank seiner Statur mehrfach für seine Farben den Ball gut behaupten. Mit anderen Worten: die Mannschaft spielte deutlich flüssiger und schneller, wovon jeder einzelne Spieler und im Resultat eben auch die Mannschaft selbst profitierte.

Die zunächst bemerkenswerteste Szene des Spiels war die fürchterliche Verletzung des Mainzer Soto nach einem unglücklich verlaufenen Zweikampf mit van der Vaart. Bekanntlich neigt van der Vaart gelegentlich zu überhartem Spiel, in diesem Fall jedoch bewerte ich die schlimme Verletzung als Unfallfolge, wie sie leider bei einem Kampf- und Kontaktsport wie dem Fußball immer wieder vorkommt. An dieser Stelle möchte ich dennoch nicht versäumen, dem Kolumbianer in Diensten des FSV eine rasche und hoffentlich vollständige Genesung zu wünschen.

Der Führungstreffer für den HSV fiel dennoch aus heiterem Himmel, denn außer vielversprechenden Ansätzen hatte der HSV zunächst keine wirklich klaren Torchancen. Westermann wollte eigentlich flanken, der Ball wurde jedoch vom Mainzer Baumgartlinger per Kopf zu einer Bogenlampe abgefälscht, die sich unhaltbar für Karius ins linke obere Eck des Mainzer Tores senkte (37.).

Zwei Minuten später musste Labbadia den angeschlagenen Müller aus dem Spiel nehmen. Doch statt des von mir erwarteten Stieber brachte er den defensiv stärkeren Jansen (39.). Als Folge dieser Wechsels spielte Olic nun auf der rechten Außenbahn, während „Cello“ den freie Platz vor Ostrzolek einnahm. Jansen hatte nach schöner Vorarbeit von Ilicevic (ließ den Ball passieren) in der 45. Minute die große Chance zum 0:2, schoss aber zu sehr „auf Mann“, sodass Karius parieren konnte.

Ähnlich erging es Kacar in der zweiten Spielhälfte, der nach einer Ecke frei zum Kopfball kam, aber ebenfalls den Ball nicht gut genug platzieren konnte (55.).

Die größte Mainzer Torchance vergab Koo, dessen Schuss nach feinem Zuspiel von Okazaki Adler mit äußerster Mühe gerade noch an den Außenpfosten lenkte (69).

Aus dem besten, da gerade lehrbuchreif vorgetragenen Angriff der Mainzer folgte der zu diesem Zeitpunkt keineswegs unverdiente Ausgleich. Der für Soto eingewechselte Malli vollendete eine sehenswerte Kombination über den rechten Mainzer Flügel zum 1:1 (76.).

Labbadia reagiert umgehend auf den veränderten Spielstand und brachte für Ilicevic den frischen Stieber (77.). Dennoch wäre Mainz beinahe der Führungstreffer gelungen. Doch den sehenswerten Freistoß von Geis konnte der sehr sicher wirkende Adler im Tor des HSV zum Glück gerade noch entschärfen (83.).

Erneut nahm Labbadia einen eins zu eins Wechsel vor und brachte Rudnevs für den gewohnt fleißigen Olic.

Als ich mich schon gerade mit einer Punkteteilung anfreunden wollte und überlegte, ob ein Punkt in Mainz nun als ausreichend oder doch zu wenig zu bewerten wäre, gelang Kacar der von Hamburger Anhang frenetisch bejubelte Siegtreffer. Nach einer Ecke des HSV von dessen rechter Angriffsseite traf Kacar den Ball bei seinem ersten Schussversuch nicht richtig, dennoch konnten  konnten die Mainzer den Ball nicht klären. So kam letztlich Kacar erneut zum Schuss und dieses Mal machte er es besser. Karius konnte seinen Flachschuss knapp neben dem rechten Pfosten nicht mehr erreichen  (87.)

Für den letzten Höhepunkt des Spiels sorgte Schiedsrichter Sippel, der Brosinski als s.g. „letztem Mann“ die Rote Karte nach einem Foul an Rudnevs zeigte.

Fazit: Der HSV hat nun zweimal hintereinander gewonnen und ist auf Platz 14 in der Tabelle geklettert. Dennoch bleibt die tabellarische Lage unverändert ernst. Erfreulich erscheint mir aus Hamburger Sicht zweierlei:

1. Der HSV erscheint unter Labbadia offensiv endlich wieder wettbewerbsfähig zu sein; 2. Der HSV kann Stand heute aus eigener Kraft den Abstieg verhindern und ist nicht auf fremde Hilfe angewiesen.

Bereits die nächsten beiden Spiele gegen den SC Freiburg (H) und den VfB Stuttgart (A) werden wohl zeigen, wohin die Reise des Dinos geht. Besonders freut mich die gute Leistung von Kacar und Westermann. Oft unsachlich kritisiert, übelst geschmäht und auch vom Verein keineswegs immer gut behandelt (Kacar), haben sie einen wesentlichen Beitrag zu diesem wichtigen Auswärtssieg geleistet. Das sollte der eine oder die andere vielleicht einfach einmal anerkennen…

Schiedsrichter: Peter Sippel (München). Unauffällig. Die Rote gegen Brosinski bleibt für mich diskutabel. Ich hielt die Entscheidung für zu hart.

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von alten und neuen Kapitänen, Klippen und einer Bergung, die andauert

Preisfrage: was haben die Costa Concordia und der HSV gemeinsam? Antwort: Beide wurden von überforderten Kapitänen kommandiert, beide wurden fast versenkt. Und in beiden Fällen sind sich die Kapitäne kaum einer Schuld bewusst.

Der Unterschied: der gockelhafte Capitano Schettino, der das ihm anvertraute Schiff offenbar vor allem aus Geltungssucht auf die Klippen der kleinen Insel Giglio setzte, bevor er natürlich nur rein zufällig in eines der ersten Rettungsboote stolperte, der besitzt (noch) ein Kapitänspatent. Carl-Edgar Jarchow wurde die Befähigung zur Führung des Dickschiffs namens HSV lediglich unterstellt. Ein in Kreisen Hamburger Pfeffersäcke durchaus klangvoller Nachname, ein wenig rhetorische Befähigung zu Politiker-Floskeln, schon wurde aus einem Hinterbänkler ein idealer Kompromisskandidat. Ein Kapitänspatent, also die tatsächlich nachgewiesene Befähigung zur Leitung eines mittelständischen Unternehmens mit einem Jahresumsatz von immerhin ca. 140 Millionen Euro in einer sehr speziellen Branche – wer braucht das schon? Wen wundert es, dass Jarchow, der mindestens die politische Verantwortung für  eine unter seiner Führung dramatisch verschlechterte finanzielle Lage des Vereins trägt, rückblickend nur die eine oder andere personelle Entscheidung als  eigenen Fehler erkennt.

Kapitäne, die vor allem auch Kraft ihrer eigenen Einschätzung über das Patent zur großen Fahrt verfügten, auch das hat(te) schließlich traurige Tradition beim einst ruhmreichen Hamburger SV.  Doch mit Ruhm und Tradition ist das so eine Sache. Beides gründet in der Regel auf Vergangenem.

Einschneidende Veränderungen und die Mär vom ausgeglichenen Wettbewerb

Der Fußball hat sich seit Gründung der Bundesliga fortlaufend verändert. Wie alle anderen Sportarten auch. Das ist eben so banal wie einfach festzustellen. Die vierstellige Bezahlung, für welche die ersten Profis noch die Schuhe schnürten, die verlangt heute schon ein namenloses Nachwuchstalent. Plus Festanstellung für den Herrn Papa, z.B. als Scout selbstredend.

Durch das Bosman-Urteil (1995) des Europäischen Gerichtshofs haben sich die Kräfteverhältnisse in den Vertragsverhandlungen zwischen Vereinen und Spielern zugunsten der Spieler verschoben. Durch den Einstieg des Bezahlfernsehens kamen Gelder in bis dato ungeahnter Größenordnung in Umlauf. Und die Umgestaltung der kontinentalen Pokal-Wettbewerbe in Ligen (in Europa: Championsleague, Euro-League) bewirkte ein Übriges. Wenn ich mich recht erinnere, so wurde in den Neunzigern eine von den nationalen Ligen gänzlich abgekoppelte eigene Liga für die G20-BigPlayer unter den Vereinen diskutiert und lautstark abgelehnt. De facto ist sie jedoch durch die Hintertür längst eingeführt worden. Denn früher ließ sich mit dem Gewinn des UEFA-Pokals oder des Europapokals der Pokalsieger durchaus noch Staat machen ( – auch wenn der Pokal der Landesmeister schon damals der bedeutendste Wettbewerb war). Heute landet man als Runner-up des nationalen Wettbewerbs oder Gewinner des nationalen Pokals in einem Trostpflaster-Wettbewerb namens Europa-League, der zunächst einmal Geld kostet. Weil man die Kadergröße an die Doppelbelastung anpassen muss, weil Siegprämien zu zahlen und zusätzliche Reisekosten zu tragen sind. Etwas Geld kann man dort erst ab dem Halbfinale verdienen. Leider garantiert einem keiner zum Start, dass man diese Gewinnzone auch tatsächlich erreicht. Anders für die Teilnehmer der Champions League. Hier werden zweistellige Millionenbeträge schon in der ersten Gruppenphase garantiert. Gewinnt man den Pokal, kommen  schnell 60 (sechzig!) Millionen Euro auf das Konto. Diese krasse Ungleichverteilung der Gelder hat zur Folge, dass Jahr für Jahr weit überwiegend die ewig gleichen Namen in der Champions League anzutreffen sind. Die reichen Vereine werden immer reicher, die Emporkömmlinge werden mit Brosamen ruhig gestellt, und der Rest, zu dem inzwischen auch der HSV zu zählen ist, spielt gegen den Abstieg.

Auch aus rein sportlicher Sicht sind unschwer bemerkenswerte Veränderungen festzustellen. Jeder, der sich heute z.B. die WM-Classics von ’74 bis ’90 anschaut, wird sofort bemerken, wie vergleichsweise  langsam die Spiele waren, wie viel Zeit bspw. ein Netzer hatte, um aus der Tiefe des Raumes nach vorne zu traben. Derart viel Zeit bekommt ein ballführender Spieler heute nicht einmal mehr in den unteren Regionen der zweiten Liga.

Manndeckung, Ausputzer? 1990 wurde Deutschland unter Beckenbauer mit einem 5-3-2-1 Weltmeister. Spielt in dieser Form heute kaum einer mehr. Viererkette? Noch Anfang der Neunziger behaupteten fast alle deutschen Experten, diese Art des Spielens passe einfach nicht zu deutschen Spielern.  Gleich so, als sei im deutschen Fußball-Genom das entsprechende Gen aufgrund des Wirkens höherer Mächte einfach nicht aufzufinden. Kennen wir schon (von den Holländern), können wir aber nicht, wollen wir daher nicht. Haben wir noch nie so gemacht und waren doch häufiger im Finale (als die kleinen Nachbarn). Basta.

Dann kam ein damals junger Trainer, Ralf Rangnick, mit dem SSV Ulm und bewies das Gegenteil. Der „Professor“ muss uns nicht den Fußball erklären! Was bildet der sich ein?!, mokierte sich das Establishment. Heute sind auf Kettenbildung basierende Systeme längst eine Selbstverständlichkeit. Mehrere Trainer experimentieren sogar mit Dreierketten in der Abwehr. Darunter anerkannte, weltweit respektierte Trainer wie Guardiola und Löw. Aber Fink, der dies exakt ein Mal beim HSV versuchte, der hatte natürlich, natürlich absolut gar keine Ahnung, meinten wieder einmal die Experten zu wissen.

Berti Vogts hat früh, Mitte der Neunziger, wiederholt darauf hingewiesen, dass der deutsche Fußball im Begriff sei, den Anschluss zu verlieren. Er forderte bereits damals ein radikales Umdenken in der Nachwuchsausbildung. Aber das war ja auch der von Raab besungene kleine Bööördi. Kein Grund zur Sorge. Am Ende kam es bekanntlich, wie es kommen musste: Die Nationalmannschaft flog bei den großen Turnieren frühzeitig nach Hause. Und auch die deutschen Klubs waren kontinental kaum noch konkurrenzfähig. Da haben es dann sogar, fast möchte ich sarkastisch gratulieren, die erzkonservativen Granden des DFB geschnallt. Aber wie immer, wenn traditionelle Vorgehensweisen in Frage gestellt werden, ging dies nicht ohne Reibung und Widerstand. Klinsmann, der sich aus guten Gründen weitgehende Befugnisse und ein handverlesenes Team zusichern ließ, wollte zusätzlich den klugen Bernhard Peters zum Sportdirektor des DFB machen. Uh, ein Hockey-Trainer, das geht gar nicht!, befand das Establishment und drückte damals Sammer durch. Die Wahrheit aus meiner Sicht: die Weltmeisterschaft 2014 ist ohne die damaligen Visionen des zu Unrecht auf ein paar Buddha-Statuen beim FCB reduzierten Klinsmann undenkbar. Allem Hoeneß zum Trotz.

Nicht nur der HSV verschläft Entwicklungen

Dann kam der BvB. Vom fast insolventen Pleiteklub zum deutschen Meister. Läuferisch der damaligen Konkurrenz überlegen, konnte Trainer Jürgen Klopp die Aufgabe der Balleroberung aus dem Bereich traditioneller Abwehrarbeit nach vorne, weg vom eigenen Tor verschieben. Pressingphasen, wie sie der HSV übrigens  zeitweilig bereits vor Jahrzehnten(!) unter Ernst Happel gespielt hatte, konnten dank verbesserter Laufleistungen der Spieler zeitlich deutlich ausgedehnt werden. Inklusive s.g. Pressingfallen, d.h. man ließ den Gegner ganz bewusst in bestimmte Räume eindringen, um dort den Ball zu erobern und die gegnerische Abwehr möglichst in Unordnung zu überraschen. Dass der HSV diese Entwicklung fast komplett verschlafen hat, das kann inzwischen kaum noch verwundern. Taktisch unter Zebec und Happel noch zur nationalen und sogar kontinentalen Spitze zählend, klammert(e) man sich in Hamburg viel zu lange an die ruhmreiche Vergangenheit. Überraschender schon, dass anfänglich selbst die Bayern den Dortmundern kaum Paroli bieten konnten. Dann aber kamen sie mit Macht. Heynckes modifizierte den Ballbesitz-Fußball van Gaal’scher Prägung und moderierte geschickt die internen Dissonanzen. Eine Transferoffensive, in deren Zuge u.a. Manuel Neuer und für schlappe 40 Millionen Euro Javi Martinez verpflichtet wurden, brachte sie zurück an die absolute Spitze (Tripple-Sieger).

Der HSV fristete derweil sportlich mehr oder minder orientierungslos sein Dasein. Mit beinahe beängstigender Regelmäßigkeit wurden neue Konzepte angekündigt. Neues Personal (Trainer, aber auch Sportdirektoren und Leiter des NLZ) verpflichtet und alsbald wieder zum Teufel gejagt. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Wen wundert es da noch, dass manches Konzept schon bald nicht mehr das Papier wert schien, auf dem es skizziert wurde?! Natürlich waren und sind nie alle Mitarbeiter des HSV unfähig gewesen! Dass man trotz dieses erzkonservativen, da rückwärts gewandten Kurses immer wieder auch erfolgreich Talente entwickeln konnte, beweist dies. Im Grunde können einem jedoch alle Mitarbeiter des Clubs leid tun, die unter derartigen Umständen über Jahre bemüht waren, tatsächliche Spitzenleistung zu ermöglichen. Aus Nabelschau und Vergangenheitsverklärung lässt sich eben nur äußerst schwer zeitgemäße Leistung in einem Hochkonkurrenz-Wettbewerb generieren.

Analyse als unverzichtbare Basis der Leistungsentwicklung

Es kann schon gar nicht mehr verwundern, dass Beiersdorfer zum Amtsantritt Knäbels eingestand, er habe gar nicht gewusst, dass man eine s.g. Weltstandsanalyse machen kann. Wie aber will man heute Talente aus der U15 auf die Anforderungen des Fußballs im Jahr 2022 vorbereiten, wenn man gar nicht weiß, wohin die Reise geht? Wenn ich gar nicht analysiere, was diese Talente in einer sich stetig wandelnden Sportart erwartet? Das funktioniert nicht. Das kann nicht optimal funktionieren! Und wir reden hier über Beiersdorfer, nicht über Herrn Hunke, Ertel  oder Jarchow…

Neue Spieler bringen oft beim HSV nicht die Leistung, die sie zuvor bei ihren Vereinen gebracht haben. Weil sie allesamt charakterschwach und saturiert sind, sobald sie beim HSV gelandet sind? Das mag in Einzelfällen zutreffen, ist aber meines Erachtens keine erschöpfende, schlüssige Erklärung.

Leistung im Sport basiert in meinen Augen auf sachkundiger, unsentimentaler Analyse: Wo stehe ich derzeit? Wodurch lässt sich die Spitze in meinem Sport kennzeichnen?  Wie kann ich eine etwaige Differenz zwischen meinem Ist-Zustand und dem Soll-Zustand in realistische, da zu erreichende Einzelschritte (Etappenziele) zerlegen? Systematisches, konzeptionelles Arbeiten ist gefragt, nicht Versuch und Irrtum. Die nicht funktionierenden Strukturen müssen  erkannt, aufgebrochen und zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zusammengefügt werden.

Wer, wie der HSV, seit Jahren und Jahrzehnten den eigenen Ansprüchen hinterher läuft, wer serienweise versagt, wenn es um die Wurst geht, der muss sich an die eigene Nase fassen. Der darf nicht die Schiedsrichter, höhere Mächte (Papierkugel) oder einzelne Spieler zum Sündenbock machen. Das ist nur bequem und zu billig.

Fußball ist, das gilt heute mehr denn je, Teamsport. Wie kann man von einer Mannschaft Spitzenleistung erwarten, bei deren Zusammenstellung mal dieser mal jener seine Finger im Spiel hatte? Wie kann ich von einem, zwei oder drei neuen Spielern Spitzenleistung erwarten, wenn das Team als Ganzes nicht funktioniert? Weil die ja (zu) viel Geld verdienen? Mit Verlaub, da spricht doch nur der Sozialneid.

Der einzelne Spieler ist immer auf den Rest seiner Kollegen angewiesen. Selbst Ausnahmekönner wie Maradona, Christiano Ronaldo oder Messi konnten und können durch sehr gut funktionierende Mannschaften neutralisiert werden, wie die Fußball-Historie belegt.

Und dennoch scheint mir ebenfalls richtig: Zwischen rückwärts gewandtem Traditionalismus nebst inzwischen absurd  erscheinendem, überhöhtem Anspruchsdenken, bestand beim HSV zu lange eine Komfortzone, die mindestens nicht leistungsfördernd wenn nicht gar leistungsfeindlich wirkte. Nur ein Beispiel: Frank Rost hat uns seinerzeit vor dem Abstieg bewahrt? – Der darf den Verein nicht  mehr verlassen, hieß es. Ein reiner Reaktionstorwart mit unterentwickelter Spieleröffnung wurde als angeblich unverzichtbar dargestellt. Konnte doch keiner ahnen, dass Manuel Neuer und eine ganz andere Generation von Torhütern (Zieler, ter Steegen, Trapp, Karius und und und) nachrücken würde. Oder etwa doch? Könnte es sein, dass diese neue Generation mitnichten plötzlich vom Himmel fiel? Würde ich nicht der Expertise von Peter Knäbel vertrauen, ich würde befürchten, dass man gerade im Begriff ist, mit Drobny denselben Fehler (wie mit Rost)  zu wiederholen.

Spieler haben in meinen Augen eine Funktion im Team. Diese sollen sie erfüllen (auch dafür werden sie im Fußball nicht zuletzt ganz anständig bezahlt.). Jedem neuen Spieler muss man eine Zeit der Eingewöhnung von einem halben Jahr zu billigen. Schließlich bleiben sie auch als Profis Menschen und sind keine Roboter. Aber spätesten dann muss ich fortlaufend die Entwicklung des Spielers analysieren. Hat er die Erwartungen erfüllt? Besitzt er weiteres Entwicklungspotenzial? Wenn er die Erwartungen nicht erfüllen konnte, bspw. weil er andauernd mit Muskelverletzungen ausfiel, muss zielgerichtet und lösungsorientiert an dem Problem gearbeitet werden. Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Alles muss auf den Prüfstand. Komplette sportmedizinische Analyse, maßgeschneidertes, präventives Training möglich?, Ernährung und Lebenswandel sind zu hinterfragen. Bleibt alles ohne Befund und Wirkung, muss man notfalls den Spieler wieder transferieren. Ende. Das mag für den Spieler hart sein, ist aber Berufsrisiko. Das wissen auch die Spieler. Es gibt keine Garantie für die großen Fleischtöpfe. Allein die Leistung kann den Platz auf Zeit an diesen Töpfen  rechtfertigen. Und Leistung, hier schließt sich der Kreis, muss immer in Relation zu den Konkurrenten bewertet werden. Was heute noch ausreichen mag, kann morgen schon ungenügend erscheinen. Weiter, immer weiter! Nichts ist so alt wie die Erfolge von gestern. Die sind schöne Erinnerungen, helfen aber wenig in der Gegenwart, wie z.B. der BvB gerade erfährt. Das bedeutet aber keineswegs, dass man alles im Falle des Misserfolgs sofort über Bord wirft. Gemeint ist aber wohl: hier gibt es ein Problem, für das in angemessener(!) Zeit eine für das Gesamtkonstrukt passende Lösung gefunden werden muss.

Um zum Ausgangspunkt, den größtenteils überforderten Kapitänen auf der Brücke des HSV zurückzukehren: Ich habe versucht, einige Punkte herauszuarbeiten:

  1. Auch der Fußball verändert sich permanent;
  2. Das jeweilige Establishment reagiert darauf gewöhnlich mindestens mit Skepsis wenn nicht gar unverhohlener Ablehnung;
  3. Eine überprüfbare positive Leistungsentwicklung ist Voraussetzung, um einen Rückstand zu verringern;
  4. Der HSV ist aus diversen Gründen den Erfordernissen des Leistungssports bisher nicht gerecht geworden. Der sportliche Niedergang hat daher hausgemachte Ursachen.

Ich betrachte daher die Veränderungen, die Peters und Knäbel beim HSV vornehmen, als sowohl zwingend notwendig als auch überfällig. Dietmar Beiersdorfer besitzt in meinen Augen in diesem Prozess die durchaus wichtige Aufgabe, all die konservativen Kräfte des Vereins „einzufangen“, die ansonsten, die Art und Weise des Scheiterns von Frank Arnesen beim HSV lässt grüßen, das Ganze früher oder später torpedieren werden. Diese Kräfte sind Klippen, die man nicht ignorieren darf, will man das Schiff am Ende in sichere Gewässer schleppen.

Wenn Peters und/oder Knäbel von „Leitplanken“ sprechen, die einzuziehen seien, wenn von leistungssportgerechten Abläufen und Strukturen die Rede ist, die jetzt, fast dreißig Jahre nach dem letzten Titelgewinn, zu etablieren seien, dann ahnt man, wie inkompetent dieser Verein von seinen bisherigen Kapitänen mehrheitlich geführt wurde. Zugleich ist es ein Armutszeugnis für einen Verein mit diesem Anspruch.

Der große Dampfer HSV liegt unverändert leckgeschlagen auf der Seite. Daran ändert auch die Entscheidung der Mitglieder pro HSVPlus zunächst nichts. Ob die Bergung gelingt, werden erst die nächsten 18 Monate zeigen. Es wird mühsam, so viel scheint sicher. Immerhin verfügt die heutige Besatzung auf der Brücke über das nötige Handwerkszeug. Allein dies erscheint mir für den HSV schon fast revolutionär und gibt Anlass zur leisen Hoffnung. Die Entscheidung für die Ausgliederung bleibt jedoch, ungeachtet gewisser Konstruktions- und Umsetzungsfehler und ungeachtet des Ausgangs der Bergung, richtig. Denn die war zu dem Zeitpunkt längst alternativlos.