Behrami

In Hamburg sagt man „tschüss“, HSV

Nach reiflicher Überlegung wird dies wohl mein letzter Blog-Eintrag zum HSV werden. Das Blog Viertermann.com wird noch bis Ende des Jahres online bleiben, dass es aber danach hier weiter geht, kann ich mir Stand heute nicht mehr vorstellen.

Seit Jahren, ja Jahrzehnten bin ich als Fan von meinem Verein, dem HSV, regelmäßig enttäuscht worden. Nun bin ich wahrlich kein Erfolgsfan und habe auch in schlechteren und ganz schlechten Zeiten immer zum Club gestanden. Aber in den letzten Monaten hat es den Anschein, als sei etwas in mir endgültig zerbrochen, nämlich die begründete Hoffnung, dass dieser einstmals ruhmreiche Club in absehbarer Zeit die richtigen Schlüsse aus dem seit mehr als vierzig Jahren währenden Niedergang ziehen wird.

Einst Nummer Zwei (2!) in Europa (hinter dem FC Liverpool) ist man inzwischen in den Niederungen der 2. Liga angekommen. Und auch hier wurde in der abgelaufenen Saison das sportliche Minimalziel, die sofortige Rückkehr in die 1. Bundesliga, notfalls über den Umweg „Relegation“, leichtfertig erneut verpasst. Ein Scheitern mit Ansage, wie ich finde. Da mochten die ehemals Verantwortlichen noch so sehr die angebliche Ausgeglichenheit der 2. Liga betonen, Tatsache ist, was die finanziellen Aufwendungen für den Kader betraf, so hatte der HSV nur einen ernsthaften Konkurrenten zu fürchten, den 1. FC Köln.

Geld schießt keine Tore, wird der eine oder andere an dieser Stelle einwenden und auf das Beispiel der jüngst aufgestiegenen Paderborner verweisen. Und doch bleibt festzustellen, dass finanzieller Aufwand und Ertrag beim HSV seit Jahren in einem ruinösen Missverhältnis stehen. Anders als bei anderen Vereinen. Auch wenn der Aufstieg der Paderborner einem kleinen sportlichen Wunder gleichkommt, so dürfte im Grunde jedem klar sein, dass diesem Verein, gerade weil er finanziell hoffnungslos unterlegen ist, vermutlich nur eine sehr kurze Stippvisite in der 1. Liga vergönnt sein wird. Merke: Geld allein schießt nicht die Tore, – gerade der HSV hat dies regelmäßig bewiesen! – aber unbestreitbar bleibt eben auch, dass Geld die unverzichtbare Voraussetzung ist, um die Chance des Zugriffs auf talentierte Spieler merklich zu erhöhen.

In der abgelaufenen Saison hatte nur ein Verein, der 1. FC Köln, finanziell gleiche, bzw. bessere Voraussetzungen. In der kommenden Spielzeit wird der HSV nun, sollte der VfB Stuttgart in der Relegation scheitern, mit gleich drei Bundesligisten (Hannover 96, 1. FC Nürnberg und eben dem VfB) konkurrieren müssen, die sicherlich mit aller Macht die sofortige Rückkehr in die 1. Liga anstreben dürften. Es werden also mehrere Mitkonkurrenten am Start sein, die über vergleichbare finanzielle Möglichkeiten verfügen. Dies spricht für die Annahme, dass sich der Wettbewerb, in dem der HSV in der abgelaufenen Saison gemessen an seinen Zielen total versagt hat, weiter verschärfen dürfte. Mit anderen Worten: Den Aufstieg in der kommenden Spielzeit zu erreichen dürfte weit schwieriger werden.

Wolf und Becker entlassen

Von Hannes Wolf als Trainer hat man sich bekanntlich allen Lippenbekenntnissen zu Durchhaltevermögen und Kontinuität anlässlich seiner damaligen Präsentation zum Trotz getrennt. Zur Begründung wurde auf „die unbefriedigende sportliche Entwicklung“ verwiesen. Nun kann man die Arbeit von Wolf sicher an einigen Punkten begründet kritisieren, jedoch sei auf zwei Punkte hingewiesen:

1.) Ihm war keine gemeinsame Sommervorbereitung mit der Mannschaft vergönnt;

2.) Der Kader, mit dem er arbeiten musste, wurde im Wesentlichen von anderen Personen geplant und zusammengestellt. Dass auch er sich hinsichtlich des Leistungsvermögens im Winter tiefgreifend verschätzt hat, hat er selbst eingeräumt.

Ich möchte es so formulieren: Wolf war als Trainer hauptverantwortlich für die Musikauswahl, das Orchester aber, mit dem diese gespielt werden musste, haben im Wesentlichen andere zu verantworten. Der Spielplan, das Ziel sofortiger Aufstieg, war ihm ohnehin von der Intendanz, Bernd Hoffmann, vorgegeben worden.

Am gestrigen Tag verkündete der HSV dann die sofortige Freistellung von Sportvorstand Ralf Becker und präsentierte als dessen Nachfolger Jonas Boldt. Auch Becker sind m.E. Fehler anzulasten, so zum Beispiel sein fragwürdiges Krisenmanagement oder sein naiver Umgang mit einer einschlägig beleumundeten Boulevard-Zeitung, der er (vielleicht) die Freistellung von Wolf nach Saisonende verriet. Aber auch Becker kam erst, nachdem der Kader im Wesentlichen bereits feststand. Und auch Becker arbeitete unter der Zielvorgabe Hoffmanns.

Der AR bewertet da formal zuständig, aber auf Grundlage welcher Qualifikation?

Die Bewertung der unbefriedigenden sportlichen Entwicklung habe den Aufsichtsrat zur Freistellung Beckers veranlasst, verkündete dessen Vorsitzender Köttgen auf der gestrigen PK. Da das von Hoffmann ausgegebene Ziel, sofortiger Aufstieg, verpasst wurde, scheint dies zunächst plausibel und nachvollziehbar. Denn der „Vorstand Sport“ trägt die Gesamtverantwortung für den sportlichen Bereich. Eben so begründet erscheint auch auf den ersten Blick, dass der Vorsitzende des Kontrollgremiums, das formal für die Berufung und Abberufung eines Vorstands zuständig ist, diese Entscheidung auch öffentlich vertritt und begründet. Mehr als fragwürdig ist aber, wer in diesem Gremium über die sportfachliche Qualifikation verfügt, um eine sportliche Entwicklung unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte sachgerecht zu beurteilen. Die bloße Feststellung, dass das gesetzte Ziel kläglich verfehlt wurde, bedarf im Grunde gar keiner Qualifikation, denn dies ist für jeden Laien mehr als offensichtlich. Anders verhält es sich aber bei der differenzierten Bewertung der dafür maßgeblichen Faktoren.

Traditionell verpasste Ziele

In Hamburg könne man nichts anderes als den sofortigen Wiederaufstieg verkaufen, meint Bernd Hoffmann. Und auch Becker sagte vor einiger Zeit, er könne nicht von Platz 5 (als Zielsetzung) reden. Allen im Detail durchaus unterschiedlichen Ansätzen ehemaliger und aktueller Führungskräfte zum Trotz zeigt sich hier eine bemerkenswert gleichförmige Tradition beim HSV. Es wurden und werden stets hohe und höchste Ziele ausgegeben und vor allem Fantasien verkauft. Eine keineswegs abschließende Auswahl:

  • Jarchows 5-Jahresplan bis zur CL
  • „Aufstellen für Europa“ (HSVPlus)
  • Das unter der Ägide von Beiersdorfer für viel Geld erarbeitete Leitbild spricht ebenfalls unverändert vom europäischen Wettbewerb
  • Beiersdorfer / Bruchhagen: in Hamburg müsse man unbedingt „Stars“ präsentieren
  • Sofortiger Aufstieg

Spöttisch formuliert zeigt sich Kontinuität beim HSV einzig im Primat des vollmundigen Marketings vor sachgerechter, sportfachlich qualifizierter, nachhaltiger Arbeit. Daraus abgeleitet ergeben sich fast zwangsläufig weitere, unrühmliche Kostante:

  • regelmäßiges Nichterreichen des gesetzten Saisonziels.;
  • beständiger Austausch von Entscheidungsträgern;
  • Umbruch als Dauerzustand

Ein fatales Missverständnis in Sachen Zielsetzung

Ziele müssten ambitioniert sein, da andernfalls Stagnation und sogar Rückentwicklung drohten. Mit dieser oberfächlich betrachtet zweifellos korrekten Aussage wird dieser Kurs beständig falscher Ankündigungen und Ziele regelmäßig vereins – und fanseitig gerechtfertigt.

Nüchtern festzustellen ist hier aber zunächst, dass der HSV seine Saisonziele in den letzten Jahrzehnten nur im absoluten Ausnahmefall erreichte. Dies lässt sich sogar für die heute rückblickend von Vielen verklärte Periode unter dem damaligen Duo Hoffmann, Beiersdorfer empirisch zweifelsfrei nachweisen. Ein „ambitioniertes“ sportliches Ziel ist aber grundsätzlich eines, dass im Optimalfall erreicht und gelegentlich sogar übertroffen werden kann. Wer aber derart beständig seine Ziele wie der HSV verfehlt, der muss sich fragen lassen, ob es nicht seine Ambitionen sind, die sich in unrealistischen Zielsetzungen manifestierten, was nebenbei die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns dann signifikant erhöht. Abgesehen davon bleibt es eine bisher absolut unbelegte Behauptung, dass man bei Fans, Sponsoren und Medien kein Verständnis für einen sachlicheren Kurs fände. Ich behaupte sogar, dass man durch die damit einhergehenden permanenten Enttäuschungen den Druck selbst verschuldet erhöht. Eben diesen Druck, den man beständig zirkelschlüssig als Begründung für seine kurzatmigen sportlichen und personellen Entscheidungen bemüht.

Keine Zielsetzung ohne Analyse!

Nun also soll es Jonas Boldt richten. Doch wie sieht der Ist-Zustand aus?

  • Boldt wird von Mutzel in den aktuellen Stand der Kaderplanung eingeweiht und sich zunächst einarbeiten müssen.
  • Die Wahl des zukünftigen Trainers steht unverändert aus. Dies ist schon deswegen problematisch, weil der neue Trainer in die Kaderzusammenstellung unbedingt eingebunden werden sollte.
  • Abgänge: Mangala, Hwang, Holtby, Lasogga, Lacroix und Arp sind weg. Douglas Santos soll und will gehen. Weitere Abgänge könnten sein: Ito, Sakai, Pollersbeck, Köhlert, Vagnoman und Papadopoulos u.v.m.
  • Zugänge bisher: Kinsombi, Gyamerah, Dudziak, Hinterseer

Alle anderen Kandidaten möchte ich nicht kommentieren. Ziel bei der Kaderzusammenstellung soll aber die Etablierung einer neuen Achse, einer neuen Strucktur bei den Führungsspielern sein, so hieß es. Dies ist aus meiner Sicht grundsätzlich richtig, notwendig und überfällig, wie ein Blick auf die alte Achse zeigt:

Eine neue Mannschaftsstruktur war auch sportlich unumgänglich

Holtby ist zweifellos ein technisch guter Spieler, der aber bei jedem Trainer der vergangenen Jahre als Stammspieler startete und im weiteren Verlauf zum Ergänzungsspieler mutierte. Der einzige Trainer, unter dem er tatsächlich konstant gute Leistung lieferte, war Christian Titz. Ein Führungsspieler muss aber durch Konstanz den Führungsanspruch untermauern, andernfalls fehlt die Akzeptanz. Dass Holtby in dieser Funktion nicht funktionierte, durfte nicht wirklich überraschen;

Papadopoulos hat eine längst allseits bekannte erhebliche Verletzungshistorie. Seinen langfristigen Ausfall „Pech“ zuzuschreiben, wäre mehr als törricht. Auch der kam praktisch mit Ansage;

Lasogga lieferte, wenn man nur auf Tore oder seine Quote fokussiert. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Zeit der reinen Strafraumstürmer vor Jahren bereits abgelaufen war (Stichwort: B. Romeo). So wie ein Verteidiger heute selbstverständlich auch seinen Beitrag für die Offensive leisten muss, so muss ein Stürmer heute läuferisch auch stark zurückarbeiten. Lasoggas technische Defizite und seine klar erkennbare läuferische Unterlegenheit verunmöglichten ein schnelles Umschaltspiel durch das Zentrum und zwangen grundsätzlich zu einem Spiel über außen. Auch wenn das letzte Saisonspiel gegen Duisburg sportlich bedeutungslos war, so kam es nicht gänzlich von ungefähr, dass man mit schnelleren und technisch besseren Spielern wie Köhlert und Arp auch auf engerem Raum plötzlich Lösungen fand;

Dass Hunt in seinem Alter nicht robuster wird und daher mit Ausfallzeiten durchaus zu rechnen sein musste, hätte bei umsichtigerer Planung auch ins Kalkül gezogen werden können. Lediglich die Aneinanderreihung von gleich drei Muskelfaserrissen kann man hier als Pech bezeichnen.

Ableitung aus dem Ist-Zustand

Wie bereits oben erwähnt, stehen weitere erhebliche personelle Veränderungen im Kader bevor. Zu den derzeit noch ungeklärten Variablen gehört der neue Trainer, dessen Spielsystem und sein konkreter Umgang mit dem Kader. Von den feststehenden vier Neuzugängen einmal abgesehen ist weiterhin völlig offen, wie dieser Kader nicht nur rein fußballerisch zusammengestellt sein wird. Völlig offen und wohl am meisten unterschätzt ist die Frage, wie die unterschiedlichen Charaktäre und Persönlichkeiten dieses Kaders dann unter Druck miteinander umgehen werden. Es ist das eine, beispielweise einen Hinterseer als neuen Führungsspieler zu holen. Ob er die Akzeptanz seiner Kollegen tatsächlich finden wird, hängt jedoch nicht nur von seinem Verhalten im Mannschaftskreis sondern auch von seinen Leistungen auf dem Platz ab. Es sei in diesem Zusammenhang warnend daran erinnert, dass in der Vergangenheit viele neue Spieler des HSV die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnten. Eine funktionierende Hierarchie kann man nicht kaufen, deren Herausbildung benötigt Zeit. Hier lässt sich daher feststellen, dass der HSV bislang lediglich dabei ist, die Voraussetzungen für eine neue Struktur zu schaffen. Gleichwohl halte ich Skepsis und Zurückhaltung aus den genannten Gründen für angebracht. Die Kader der letzten Spielzeiten wiesen regelmäßig schwere Defizite auf, was die jeweils Verantwortlichen durch Nachverpflichtungen wie Spahic, Behrami und Mavraj jeweils kompensieren mussten und wollten. Der „Erfolg“ dürfte bekannt sein.

Der HSV hat also aktuell weder einen Trainer noch einen fixen Kader. Noch ist klar, ob und wie die Mannschaft zusammenwächst. Die so wichtige intakte Hierarchie kann und wird sich erst im Laufe der Saison entwickeln müssen. Nach einer desaströsen Rückrunde, die mindestens zu Saisonbeginn in den Köpfen der weiterhin beim HSV verbleibenden Spieler noch nachwirken wird, steht ein kompletter Neuaufbau unter erschwerten Konkurrenzbedingungen (s.o.) bevor. Ich bin völlig bei Hannes Wolf , dass unter diesen Bedingungen eine Konsolidierung im oberen Tabellenbereich sachlich begründet und angemessen wäre. Dies bedeutet eben nicht die grundsätzliche Preisgabe des Ziels Aufstieg und das Einrichten im grauen Mittelmaß der 2. Liga! Ein erneuter Platz 4 oder 5 mag zwar jene enttäuschen, die eine zügige Rückkehr in die Bundesliga sehnlichst erwarten, es wäre unter den Umständen jedoch ein erfolgreicher Zwischenschritt, den man als solchen auch erklären könnte. Damit würde man auch den nicht zuletzt selbstverschuldeten Druck etwas reduzieren. Denn eins ist auch unbestreitbar: Von Kontinuität wird vom HSV unverändert nur geredet. Die Fakten beweisen das exakte Gegenteil! Finanziell unterlegene Vereine, wie Paderborn oder Union sind aber auch nicht zu letzt deswegen erfolgreich, weil sie auch davon weniger reden sondern entsprechend konsequent handeln.

Konsequent unbelehrbar

Der HSV verkauft seit Jahren unbeirrbar und offenbar unbelehrbar Mogelpackungen. Gestern Europa, heute der Aufstieg. Die berühmt-berüchtigte Uhr, sie ist vor einem Jahr abgelaufen. Statt sie zu entsorgen, hat man sie mittels eines Taschenspielertricks einfach umgestellt. Als wäre im Grunde nichts geschehen. Bei „Hamburg, meine Perle“ werden unverändert in jeder Strophe Gegner verspottet, mit denen man in Wahrheit schon lange nicht mehr auf Augenhöhe ist. Die Realität, sie heißt Bochum, Bielefeld, Heidenheim, Aue oder Kiel, aber gesanglich zieht man ungerührt und offenbar unbelehrbar den Bayern die Lederhosen aus. Das, wie auch die ewig überhöhten Ankündigungen, beschreibt den Club leider treffender als alles, was die Verantwortlichen in den letzten Jahren angekündigt haben.

Da der HSV aus meiner Sicht reinem Marketing-Denken und effektheischenden statt sachlich-fachlich begründeten Zielen verhaftet bleibt, letztlich substanzlose Ankündigungen das Handeln seiner Entscheidungsträger bestimmen, vermag ich inzwischen nicht mehr an eine nachhaltige Besserung beim HSV zu glauben. Boldt, dem ich wie dem neuen Trainer selbstverständlich nur das Beste wünsche, bleibt für mich bis zum Beweis des Gegenteils nur ein weiterer auf der langen Liste der Hoffnungsträger. Und zwar ein weiterer auf Abruf.

Der HSV, ich schrieb es hier unlängst, geht einer höchst ungewissen Zukunft entgegen. Ich werde diese ab sofort nur noch aus der Ferne begleiten. In Hamburg sagt man „tschüss!“

Nachtrag: Ich möchte mich an dieser Stelle herzlichst bei Euch bedanken, dass Ihr mir über all die Jahre immer wieder einige Minuten eurer Zeit geschenkt habt, um meinen Gedanken zu folgen. Dafür und für die durchweg wertschätzenden Kommentare bin ich sehr dankbar!

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Chaos, Zorn und ein alter Bekannter

Es macht mir schon lange wahrlich keinen Spaß, die Ereignisse in und rund um den HSV zu verfolgen. Die zweite Saison in Folge schwebt die Mannschaft in höchster Abstiegsgefahr und spielt, seien wir ehrlich, überwiegend schlecht. Nach nicht einmal einem Jahr scheint die fulminante Aufbruchstimmung nach der mit überwältigender Mehrheit beschlossenen Ausgliederung der Profifußball-Abteilung  größtenteils verpufft.

Der nach meinem Eindruck bei weiten Teilen der Anhängerschaft äußerst beliebte Joe Zinnbauer wurde abgelöst, da die Verantwortlichen des Vereins offenbar nicht mehr an eine Wende zum besseren unter seiner Leitung glaubten. Auch ich bedauere diese Entscheidung, kann sie aber nachvollziehen.

Tatsache ist, dass jeder Trainer im professionellen Leistungssport, sympathisch oder nicht, dazu verdammt ist, in erster Linie vorzeigbare Resultate zu liefern. Zinnbauer hatte zwar einiges vorzuweisen, wenn man an die im Vergleich zur Vorsaison verbesserte Defensivleistung, die gestiegene Laufbereitschaft, die Integration junger Nachwuchsspieler oder die meist gute kämpferische Einstellung der Mannschaft denkt. Auf der anderen Seite standen einige personelle und taktische Fehlgriffe, stellvertretend sei hier nur an das Debakel gegen die Bayern erinnert, zu Buche. Auch nach Dreiviertel der Saison ist es unter seiner Leitung zudem nicht gelungen, der Mannschaft ein überzeugendes Offensivkonzept zu vermitteln, was zu einer rekordverdächtig geringen Anzahl eigener Torerfolge führte. Und so kann beides nicht verwundern: dass für Zinnbauers Weiterbeschäftigung am Ende die wichtigsten Argumente fehlten, nämlich gewonnene Punkte und, dass man von Seiten der Verantwortlichen beschloss, mit einem neuen Mann an der Linie einen neuen Impuls zu setzen, wie man in diesem Zusammenhang immer gerne sagt.

Wenn mich mein Eindruck nicht trügt, so hätte man als Nachfolger nur zu gerne sofort Thomas Tuchel verpflichtet, was aber aus diversen Gründen gescheitert ist. Zum einen standen dem die vertraglichen Vereinbarungen entgegen, die Tuchel mit seinem letzten Verein, dem FSV Mainz 05, getroffen hatte. Versetzt man sich zudem einmal in Tuchels Lage, so war auch kein vernünftiger Grund ersichtlich, warum er, einer der am heißesten auf dem Markt gehandelten Trainer, ohne jede Not eine Saison ggf. mit einem Abstieg des HSV zu Ende hätte bringen sollen. Ein Abstieg, der dann wohl auch seine persönliche berufliche Reputation nachhaltig beschädigt hätte. An seiner Stelle hätte ich da auch einen sauberen Neuanfang zu Beginn der kommenden Spielzeit verlangt. Zumal sich seit Wochen die Anzeichen verdichteten, dass sich für ihn eventuell eine sportlich deutlich reizvollere Option, z.B. beim BvB, eröffnen könnte…

Betrachtet man also rückblickend die Situation zum Zeitpunkt der Trennung von Zinnbauer aus Sicht der Verantwortlichen um Dietmar Beiersdorfer, so ist für mich ebenfalls nachvollziehbar, dass man auf die Idee kam, Peter Knäbel für den Saisonendspurt  mit der Mission Klassenerhalt zu betrauen. Der kannte schließlich aufgrund seiner Position als Sportdirektor sowohl die Mannschaft als auch die bisherige Arbeitsweise Zinnbauers. Den bis dato Wunschtrainer Tuchel hoffte man schließlich zu diesem Zeitpunkt, zur neuen Saison verpflichten zu können. Und welcher andere Trainer hätte sich ein nur bis zum Saisonende befristetes Engagement beim HSV angetan, verbunden mit dem Risiko, dass sein Name im Misserfolgsfall für alle Zeiten mit dem immer wahrscheinlicher werdenden ersten Abstieg des Dinos in Verbindung gebracht worden wäre?

Knäbel ist hier ein hohes persönliches Risiko eingegangen, denn praktische Erfahrung als Cheftrainer besaß er kaum. Schon gar nicht in der Bundesliga. Nachträglich muss man feststellen, dass man sich offenbar zu lange und alternativlos um Tuchel als Trainer für die kommende Saison bemüht hat. Erst daraus entstand ein Mangel an Alternativen, eine Ausweglosigkeit, an deren Ende alle Beteiligten -vorsichtig formuliert – kein gutes Bild abgaben.

Knäbel hat im ersten Spiel unter seiner Regie gegen Leverkusen auf die erfahrenen Spieler gesetzt. Auch dies kann man in einer sportlich bedrohlichen Situation grundsätzlich nachvollziehen. Mindestens irritieren muss aber, wenn sich ausgerechnet der eigentliche Sportdirekor nach diesem Spiel zu der Aussage hinreißen lässt, er habe nun gesehen, auf wen er sich verlassen könne. Ich konnte es fast nicht glauben, als ich das aus seinem Munde hörte. Dass man sich gerade auf einige dieser erfahrenen und namhaften Spieler dieses Kaders eben nicht verlassen kann, dies belegen nicht zuletzt die letzten, größtenteils erfolglosen Jahre.

Knäbel ist in meinen Augen als Sportdirekor unverändert ein Fachmann und als solcher ein guter Analytiker. Als Trainer wirkte er jedoch völlig deplatziert und überfordert. Es passte ins Bild, dass sich zwei designierte Führungsspieler dieser Mannschaft, Djourou und Behrami, in der Halbzeitpause des Spiels gegen den VfL Wolfsburg offenbar eine handfeste Auseinandersetzung in der Kabine lieferten. Es passt ebenfalls ins Bild, dass sich Djourou als Kapitän(!) eine vollkommen unnötige gelb-rote Karte abholte. Und es passte schließlich ins Bild, dass Knäbel nach dem Spiel ohne jede Not – öffentlich! – Cléber kritisierte, der zweifellos die Niederlage mit einem groben Schnitzer eingeleitet hatte, der aber m.M.n. noch einer der ganz wenigen gewesen ist, die bemüht waren, mutig zu spielen. Was die große Mehrheit der Truppe, von Mannschaft mag ich nach dieser erbärmlichen „Leistung“ gar nicht mehr schreiben, ablieferte – absolut erschreckend!

Der HSV gegen den VfL Wolfsburg, das war mehr als ein Klassenunterschied. Die Hamburger spielten wie eine dieser zusammengewürfelten Mannschaften, wie man sie aus den s.g. Abschiedsspielen für verdiente Spieler kennt: Irgendwie weiß jeder im Prinzip wie es gehen könnte, nur fehlt jede Bindung untereinander und so wirklich ernst nimmt man es auch nicht.  Mit der 0:2-Niederlage war man demzufolge am Ende noch bestens bedient. In diesem Kader, das hätte eigentlich längst jedem klar sein müssen, muss am Ende dieser Spielzeit endlich gründlich aufgeräumt werden. Und wenn ich derzeit lese, der zuletzt auch noch verletzte Jansen sei der Hoffnungsträger – ausgerechnet…- für das kommende Derby, weiß ich nicht, ob ich nun lachen oder weinen soll.

Zum Weinen finde ich auch, was sich einige HSV-Anhänger in den Sozialen Medien leisten. „St.Pauli-Fresse“ (gemeint war Knäbel), geht gar nicht! Zumal wenn es von Leuten kommt, die dem Franken und ehemaligen Werder-Spieler Beiersdorfer nicht nur völlig unkritisch zu jubeln, sondern den Eindruck erwecken, als könne dieser barfuß über das Wasser wandeln.

Schlimm auch, wie jetzt einige derjenigen, die unverändert und offenbar unbelehrbar die Mär von der abgeschafften Demokratie beim HSV weiterspinnen, offenbar völlig vergessen haben, dass sie es gewesen sind, die ganz demokratisch Jahr um Jahr fragwürdige Persönlichkeiten in Führungspositionen beim HSV gehoben haben. Dass sie es waren, die schon vor Jahren die offensichtlichen personellen Mogelpackungen (u.a. Sportdirekor Reinhardt), die Intrigen, die Durchsteckereien usw. usf. durch ihr Wahlverhalten hätten beenden können und müssen.

Der wachsende Zorn der Anhänger angesichts des bisher ungebremsten sportlichen Niedergangs finde ich grundsätzlich verständlich. Ich teile auch die Kritik derjenigen, die finden, dass die neue Vereinsführung bisher einiges schuldig geblieben ist. Dass der erst vor drei Wochen als Co-Trainer vorgestellte Hermann nach der Verpflichtung Labbadias als neuem Trainer inzwischen auch schon wieder Geschichte ist, das steht für mich sinnbildlich für das chaotische Erscheinungsbild des Clubs, welches der neue Vorstand durch seinen Schlingerkurs inzwischen jedenfalls z.T. auch zu verantworten hat. Am Ende aber baden alle derzeit Verantwortlichen überwiegend die eklatanten Fehler anderer,  insbsondere aus den letzten sechs, sieben Jahren aus. Was z.B. ein Peter Knäbel als Sportdirektor tatsächlich kann, dies ist nach nur einer Wintertransferperiode und denkbar schlechten finanziellen Bedingungen gar nicht seriös zu beurteilen. Sollte der HSV am Ende dieser Spielzeit tatsächlich absteigen, dann stünde zu befürchten, dass die am lautesten nach Satisfaktion verlangen, die tatsächlich selbst den schleichenden Niedergang des Dinos mindestens geduldet wenn nicht gar verschuldet haben.

Abschließend: Fachlich halte ich Bruno Labbadia für eine gute Lösung. Allerdings neigte er bei seiner ersten Amtszeit als Trainer den Spielern gegenüber bisweilen zu überlangen Vorträgen, was ihn nach und nach die Gefolgschaft einiger damaliger Führungsspieler kostete. Wenn ich an seine redundanten Aussagen nach den Spielen denke, habe ich allerdings meine Zweifel, ob mit ihm die anzustrebende Kontinuität zu erreichen ist. Bleibt der Erfolg aus, dann ist einer wie er, der nicht gerade aus dem tiefen Brunnen der Rhetorik schöpft, schnell die nächste, willkommene Zielscheibe…

Sei es, wie es sei – ich wünsche Labbadia viel, viel Glück. Er wird es brauchen.