Köhlert

In Hamburg sagt man „tschüss“, HSV

Nach reiflicher Überlegung wird dies wohl mein letzter Blog-Eintrag zum HSV werden. Das Blog Viertermann.com wird noch bis Ende des Jahres online bleiben, dass es aber danach hier weiter geht, kann ich mir Stand heute nicht mehr vorstellen.

Seit Jahren, ja Jahrzehnten bin ich als Fan von meinem Verein, dem HSV, regelmäßig enttäuscht worden. Nun bin ich wahrlich kein Erfolgsfan und habe auch in schlechteren und ganz schlechten Zeiten immer zum Club gestanden. Aber in den letzten Monaten hat es den Anschein, als sei etwas in mir endgültig zerbrochen, nämlich die begründete Hoffnung, dass dieser einstmals ruhmreiche Club in absehbarer Zeit die richtigen Schlüsse aus dem seit mehr als vierzig Jahren währenden Niedergang ziehen wird.

Einst Nummer Zwei (2!) in Europa (hinter dem FC Liverpool) ist man inzwischen in den Niederungen der 2. Liga angekommen. Und auch hier wurde in der abgelaufenen Saison das sportliche Minimalziel, die sofortige Rückkehr in die 1. Bundesliga, notfalls über den Umweg „Relegation“, leichtfertig erneut verpasst. Ein Scheitern mit Ansage, wie ich finde. Da mochten die ehemals Verantwortlichen noch so sehr die angebliche Ausgeglichenheit der 2. Liga betonen, Tatsache ist, was die finanziellen Aufwendungen für den Kader betraf, so hatte der HSV nur einen ernsthaften Konkurrenten zu fürchten, den 1. FC Köln.

Geld schießt keine Tore, wird der eine oder andere an dieser Stelle einwenden und auf das Beispiel der jüngst aufgestiegenen Paderborner verweisen. Und doch bleibt festzustellen, dass finanzieller Aufwand und Ertrag beim HSV seit Jahren in einem ruinösen Missverhältnis stehen. Anders als bei anderen Vereinen. Auch wenn der Aufstieg der Paderborner einem kleinen sportlichen Wunder gleichkommt, so dürfte im Grunde jedem klar sein, dass diesem Verein, gerade weil er finanziell hoffnungslos unterlegen ist, vermutlich nur eine sehr kurze Stippvisite in der 1. Liga vergönnt sein wird. Merke: Geld allein schießt nicht die Tore, – gerade der HSV hat dies regelmäßig bewiesen! – aber unbestreitbar bleibt eben auch, dass Geld die unverzichtbare Voraussetzung ist, um die Chance des Zugriffs auf talentierte Spieler merklich zu erhöhen.

In der abgelaufenen Saison hatte nur ein Verein, der 1. FC Köln, finanziell gleiche, bzw. bessere Voraussetzungen. In der kommenden Spielzeit wird der HSV nun, sollte der VfB Stuttgart in der Relegation scheitern, mit gleich drei Bundesligisten (Hannover 96, 1. FC Nürnberg und eben dem VfB) konkurrieren müssen, die sicherlich mit aller Macht die sofortige Rückkehr in die 1. Liga anstreben dürften. Es werden also mehrere Mitkonkurrenten am Start sein, die über vergleichbare finanzielle Möglichkeiten verfügen. Dies spricht für die Annahme, dass sich der Wettbewerb, in dem der HSV in der abgelaufenen Saison gemessen an seinen Zielen total versagt hat, weiter verschärfen dürfte. Mit anderen Worten: Den Aufstieg in der kommenden Spielzeit zu erreichen dürfte weit schwieriger werden.

Wolf und Becker entlassen

Von Hannes Wolf als Trainer hat man sich bekanntlich allen Lippenbekenntnissen zu Durchhaltevermögen und Kontinuität anlässlich seiner damaligen Präsentation zum Trotz getrennt. Zur Begründung wurde auf „die unbefriedigende sportliche Entwicklung“ verwiesen. Nun kann man die Arbeit von Wolf sicher an einigen Punkten begründet kritisieren, jedoch sei auf zwei Punkte hingewiesen:

1.) Ihm war keine gemeinsame Sommervorbereitung mit der Mannschaft vergönnt;

2.) Der Kader, mit dem er arbeiten musste, wurde im Wesentlichen von anderen Personen geplant und zusammengestellt. Dass auch er sich hinsichtlich des Leistungsvermögens im Winter tiefgreifend verschätzt hat, hat er selbst eingeräumt.

Ich möchte es so formulieren: Wolf war als Trainer hauptverantwortlich für die Musikauswahl, das Orchester aber, mit dem diese gespielt werden musste, haben im Wesentlichen andere zu verantworten. Der Spielplan, das Ziel sofortiger Aufstieg, war ihm ohnehin von der Intendanz, Bernd Hoffmann, vorgegeben worden.

Am gestrigen Tag verkündete der HSV dann die sofortige Freistellung von Sportvorstand Ralf Becker und präsentierte als dessen Nachfolger Jonas Boldt. Auch Becker sind m.E. Fehler anzulasten, so zum Beispiel sein fragwürdiges Krisenmanagement oder sein naiver Umgang mit einer einschlägig beleumundeten Boulevard-Zeitung, der er (vielleicht) die Freistellung von Wolf nach Saisonende verriet. Aber auch Becker kam erst, nachdem der Kader im Wesentlichen bereits feststand. Und auch Becker arbeitete unter der Zielvorgabe Hoffmanns.

Der AR bewertet da formal zuständig, aber auf Grundlage welcher Qualifikation?

Die Bewertung der unbefriedigenden sportlichen Entwicklung habe den Aufsichtsrat zur Freistellung Beckers veranlasst, verkündete dessen Vorsitzender Köttgen auf der gestrigen PK. Da das von Hoffmann ausgegebene Ziel, sofortiger Aufstieg, verpasst wurde, scheint dies zunächst plausibel und nachvollziehbar. Denn der „Vorstand Sport“ trägt die Gesamtverantwortung für den sportlichen Bereich. Eben so begründet erscheint auch auf den ersten Blick, dass der Vorsitzende des Kontrollgremiums, das formal für die Berufung und Abberufung eines Vorstands zuständig ist, diese Entscheidung auch öffentlich vertritt und begründet. Mehr als fragwürdig ist aber, wer in diesem Gremium über die sportfachliche Qualifikation verfügt, um eine sportliche Entwicklung unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte sachgerecht zu beurteilen. Die bloße Feststellung, dass das gesetzte Ziel kläglich verfehlt wurde, bedarf im Grunde gar keiner Qualifikation, denn dies ist für jeden Laien mehr als offensichtlich. Anders verhält es sich aber bei der differenzierten Bewertung der dafür maßgeblichen Faktoren.

Traditionell verpasste Ziele

In Hamburg könne man nichts anderes als den sofortigen Wiederaufstieg verkaufen, meint Bernd Hoffmann. Und auch Becker sagte vor einiger Zeit, er könne nicht von Platz 5 (als Zielsetzung) reden. Allen im Detail durchaus unterschiedlichen Ansätzen ehemaliger und aktueller Führungskräfte zum Trotz zeigt sich hier eine bemerkenswert gleichförmige Tradition beim HSV. Es wurden und werden stets hohe und höchste Ziele ausgegeben und vor allem Fantasien verkauft. Eine keineswegs abschließende Auswahl:

  • Jarchows 5-Jahresplan bis zur CL
  • „Aufstellen für Europa“ (HSVPlus)
  • Das unter der Ägide von Beiersdorfer für viel Geld erarbeitete Leitbild spricht ebenfalls unverändert vom europäischen Wettbewerb
  • Beiersdorfer / Bruchhagen: in Hamburg müsse man unbedingt „Stars“ präsentieren
  • Sofortiger Aufstieg

Spöttisch formuliert zeigt sich Kontinuität beim HSV einzig im Primat des vollmundigen Marketings vor sachgerechter, sportfachlich qualifizierter, nachhaltiger Arbeit. Daraus abgeleitet ergeben sich fast zwangsläufig weitere, unrühmliche Kostante:

  • regelmäßiges Nichterreichen des gesetzten Saisonziels.;
  • beständiger Austausch von Entscheidungsträgern;
  • Umbruch als Dauerzustand

Ein fatales Missverständnis in Sachen Zielsetzung

Ziele müssten ambitioniert sein, da andernfalls Stagnation und sogar Rückentwicklung drohten. Mit dieser oberfächlich betrachtet zweifellos korrekten Aussage wird dieser Kurs beständig falscher Ankündigungen und Ziele regelmäßig vereins – und fanseitig gerechtfertigt.

Nüchtern festzustellen ist hier aber zunächst, dass der HSV seine Saisonziele in den letzten Jahrzehnten nur im absoluten Ausnahmefall erreichte. Dies lässt sich sogar für die heute rückblickend von Vielen verklärte Periode unter dem damaligen Duo Hoffmann, Beiersdorfer empirisch zweifelsfrei nachweisen. Ein „ambitioniertes“ sportliches Ziel ist aber grundsätzlich eines, dass im Optimalfall erreicht und gelegentlich sogar übertroffen werden kann. Wer aber derart beständig seine Ziele wie der HSV verfehlt, der muss sich fragen lassen, ob es nicht seine Ambitionen sind, die sich in unrealistischen Zielsetzungen manifestierten, was nebenbei die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns dann signifikant erhöht. Abgesehen davon bleibt es eine bisher absolut unbelegte Behauptung, dass man bei Fans, Sponsoren und Medien kein Verständnis für einen sachlicheren Kurs fände. Ich behaupte sogar, dass man durch die damit einhergehenden permanenten Enttäuschungen den Druck selbst verschuldet erhöht. Eben diesen Druck, den man beständig zirkelschlüssig als Begründung für seine kurzatmigen sportlichen und personellen Entscheidungen bemüht.

Keine Zielsetzung ohne Analyse!

Nun also soll es Jonas Boldt richten. Doch wie sieht der Ist-Zustand aus?

  • Boldt wird von Mutzel in den aktuellen Stand der Kaderplanung eingeweiht und sich zunächst einarbeiten müssen.
  • Die Wahl des zukünftigen Trainers steht unverändert aus. Dies ist schon deswegen problematisch, weil der neue Trainer in die Kaderzusammenstellung unbedingt eingebunden werden sollte.
  • Abgänge: Mangala, Hwang, Holtby, Lasogga, Lacroix und Arp sind weg. Douglas Santos soll und will gehen. Weitere Abgänge könnten sein: Ito, Sakai, Pollersbeck, Köhlert, Vagnoman und Papadopoulos u.v.m.
  • Zugänge bisher: Kinsombi, Gyamerah, Dudziak, Hinterseer

Alle anderen Kandidaten möchte ich nicht kommentieren. Ziel bei der Kaderzusammenstellung soll aber die Etablierung einer neuen Achse, einer neuen Strucktur bei den Führungsspielern sein, so hieß es. Dies ist aus meiner Sicht grundsätzlich richtig, notwendig und überfällig, wie ein Blick auf die alte Achse zeigt:

Eine neue Mannschaftsstruktur war auch sportlich unumgänglich

Holtby ist zweifellos ein technisch guter Spieler, der aber bei jedem Trainer der vergangenen Jahre als Stammspieler startete und im weiteren Verlauf zum Ergänzungsspieler mutierte. Der einzige Trainer, unter dem er tatsächlich konstant gute Leistung lieferte, war Christian Titz. Ein Führungsspieler muss aber durch Konstanz den Führungsanspruch untermauern, andernfalls fehlt die Akzeptanz. Dass Holtby in dieser Funktion nicht funktionierte, durfte nicht wirklich überraschen;

Papadopoulos hat eine längst allseits bekannte erhebliche Verletzungshistorie. Seinen langfristigen Ausfall „Pech“ zuzuschreiben, wäre mehr als törricht. Auch der kam praktisch mit Ansage;

Lasogga lieferte, wenn man nur auf Tore oder seine Quote fokussiert. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Zeit der reinen Strafraumstürmer vor Jahren bereits abgelaufen war (Stichwort: B. Romeo). So wie ein Verteidiger heute selbstverständlich auch seinen Beitrag für die Offensive leisten muss, so muss ein Stürmer heute läuferisch auch stark zurückarbeiten. Lasoggas technische Defizite und seine klar erkennbare läuferische Unterlegenheit verunmöglichten ein schnelles Umschaltspiel durch das Zentrum und zwangen grundsätzlich zu einem Spiel über außen. Auch wenn das letzte Saisonspiel gegen Duisburg sportlich bedeutungslos war, so kam es nicht gänzlich von ungefähr, dass man mit schnelleren und technisch besseren Spielern wie Köhlert und Arp auch auf engerem Raum plötzlich Lösungen fand;

Dass Hunt in seinem Alter nicht robuster wird und daher mit Ausfallzeiten durchaus zu rechnen sein musste, hätte bei umsichtigerer Planung auch ins Kalkül gezogen werden können. Lediglich die Aneinanderreihung von gleich drei Muskelfaserrissen kann man hier als Pech bezeichnen.

Ableitung aus dem Ist-Zustand

Wie bereits oben erwähnt, stehen weitere erhebliche personelle Veränderungen im Kader bevor. Zu den derzeit noch ungeklärten Variablen gehört der neue Trainer, dessen Spielsystem und sein konkreter Umgang mit dem Kader. Von den feststehenden vier Neuzugängen einmal abgesehen ist weiterhin völlig offen, wie dieser Kader nicht nur rein fußballerisch zusammengestellt sein wird. Völlig offen und wohl am meisten unterschätzt ist die Frage, wie die unterschiedlichen Charaktäre und Persönlichkeiten dieses Kaders dann unter Druck miteinander umgehen werden. Es ist das eine, beispielweise einen Hinterseer als neuen Führungsspieler zu holen. Ob er die Akzeptanz seiner Kollegen tatsächlich finden wird, hängt jedoch nicht nur von seinem Verhalten im Mannschaftskreis sondern auch von seinen Leistungen auf dem Platz ab. Es sei in diesem Zusammenhang warnend daran erinnert, dass in der Vergangenheit viele neue Spieler des HSV die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnten. Eine funktionierende Hierarchie kann man nicht kaufen, deren Herausbildung benötigt Zeit. Hier lässt sich daher feststellen, dass der HSV bislang lediglich dabei ist, die Voraussetzungen für eine neue Struktur zu schaffen. Gleichwohl halte ich Skepsis und Zurückhaltung aus den genannten Gründen für angebracht. Die Kader der letzten Spielzeiten wiesen regelmäßig schwere Defizite auf, was die jeweils Verantwortlichen durch Nachverpflichtungen wie Spahic, Behrami und Mavraj jeweils kompensieren mussten und wollten. Der „Erfolg“ dürfte bekannt sein.

Der HSV hat also aktuell weder einen Trainer noch einen fixen Kader. Noch ist klar, ob und wie die Mannschaft zusammenwächst. Die so wichtige intakte Hierarchie kann und wird sich erst im Laufe der Saison entwickeln müssen. Nach einer desaströsen Rückrunde, die mindestens zu Saisonbeginn in den Köpfen der weiterhin beim HSV verbleibenden Spieler noch nachwirken wird, steht ein kompletter Neuaufbau unter erschwerten Konkurrenzbedingungen (s.o.) bevor. Ich bin völlig bei Hannes Wolf , dass unter diesen Bedingungen eine Konsolidierung im oberen Tabellenbereich sachlich begründet und angemessen wäre. Dies bedeutet eben nicht die grundsätzliche Preisgabe des Ziels Aufstieg und das Einrichten im grauen Mittelmaß der 2. Liga! Ein erneuter Platz 4 oder 5 mag zwar jene enttäuschen, die eine zügige Rückkehr in die Bundesliga sehnlichst erwarten, es wäre unter den Umständen jedoch ein erfolgreicher Zwischenschritt, den man als solchen auch erklären könnte. Damit würde man auch den nicht zuletzt selbstverschuldeten Druck etwas reduzieren. Denn eins ist auch unbestreitbar: Von Kontinuität wird vom HSV unverändert nur geredet. Die Fakten beweisen das exakte Gegenteil! Finanziell unterlegene Vereine, wie Paderborn oder Union sind aber auch nicht zu letzt deswegen erfolgreich, weil sie auch davon weniger reden sondern entsprechend konsequent handeln.

Konsequent unbelehrbar

Der HSV verkauft seit Jahren unbeirrbar und offenbar unbelehrbar Mogelpackungen. Gestern Europa, heute der Aufstieg. Die berühmt-berüchtigte Uhr, sie ist vor einem Jahr abgelaufen. Statt sie zu entsorgen, hat man sie mittels eines Taschenspielertricks einfach umgestellt. Als wäre im Grunde nichts geschehen. Bei „Hamburg, meine Perle“ werden unverändert in jeder Strophe Gegner verspottet, mit denen man in Wahrheit schon lange nicht mehr auf Augenhöhe ist. Die Realität, sie heißt Bochum, Bielefeld, Heidenheim, Aue oder Kiel, aber gesanglich zieht man ungerührt und offenbar unbelehrbar den Bayern die Lederhosen aus. Das, wie auch die ewig überhöhten Ankündigungen, beschreibt den Club leider treffender als alles, was die Verantwortlichen in den letzten Jahren angekündigt haben.

Da der HSV aus meiner Sicht reinem Marketing-Denken und effektheischenden statt sachlich-fachlich begründeten Zielen verhaftet bleibt, letztlich substanzlose Ankündigungen das Handeln seiner Entscheidungsträger bestimmen, vermag ich inzwischen nicht mehr an eine nachhaltige Besserung beim HSV zu glauben. Boldt, dem ich wie dem neuen Trainer selbstverständlich nur das Beste wünsche, bleibt für mich bis zum Beweis des Gegenteils nur ein weiterer auf der langen Liste der Hoffnungsträger. Und zwar ein weiterer auf Abruf.

Der HSV, ich schrieb es hier unlängst, geht einer höchst ungewissen Zukunft entgegen. Ich werde diese ab sofort nur noch aus der Ferne begleiten. In Hamburg sagt man „tschüss!“

Nachtrag: Ich möchte mich an dieser Stelle herzlichst bei Euch bedanken, dass Ihr mir über all die Jahre immer wieder einige Minuten eurer Zeit geschenkt habt, um meinen Gedanken zu folgen. Dafür und für die durchweg wertschätzenden Kommentare bin ich sehr dankbar!

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Chronik eines sich ankündigenden Scheiterns

Der HSV unterliegt dem 1. FC Magdeburg mit 1:2 (1:0)

(K)eine Trainerdiskussion

Wer meine Blogeinträge über die Jahre gelesen hat, der hat hoffentlich bemerkt, dass ich gewöhnlich nicht dazu neige, Einzelpersonen die Schuld am sportlichen Misserfolg in die Schuhe zu schieben. Dreißig Jahre im Sport haben mich gelehrt, dass es fast immer eine ganze Reihe von Gründen sind, an deren Kettenende Resultate stehen. Auch deswegen verwerfe ich regelmäßig monokausale Erklärungsansätze, denn in der realen Praxis sind es in aller Regel multiple Faktoren, die ein Leistungsbild vielfältig bedingen und zur Entstehung von Ergebnissen führen. Statistische Werte, eine seit einigen Jahren zunehmend im Fußball genutzte Modeerscheinung, mögen zur Legitimierung von Meinung dienen, da sie scheinbar die subjektive Wahrnehmung objektivieren, sind aber ohne Kontext und Ergänzung durch fachkundige qualitative Analyse zum wirklichen Verständnis nahezu wertlos. Ihr Benefit besteht meist nur darin, dass Erklärungssuchende vermeintlich schlagende Gründe benennen und damit Relevanz von subjektiver Meinung meinen behaupten zu können.

Im Folgenden werde ich mich dennoch klar festlegen, wer für die gestrige Niederlage des HSV gegen den 1. FC Magdeburg hauptsächlich verantwortlich ist. Und das sind nicht angeblich arrogante, selbstgefällige Spieler, sondern dies sind strukturelle Kaderprobleme und der für den gestrigen Gegner vollkommen gescheiterte taktische Ansatz des Trainers. Doch der Reihe nach.

Hannes Wolf vertraute der folgenden Startformation: Pollersbeck – Sakai (76. Narey), Bates, Papadopoulos, van Drongelen, Douglas Santos – Jung, Holtby (83. Köhlert), Mangala – Lasogga, Jatta (67. Özcan)

Wie man hier sieht, begann der HSV in jener 5-3-2, bzw. 3-5-2 Grundordnung, welche jüngst im Spiel gegen Paderborn zum Erfolg und damit zum Einzug ins Halbfinale des DFB-Pokals geführt hatte. Papadopoulos stand erneut in der Startelf und erweiterte die Innenverteidigung zu einer Dreierkette. Beide Außenverteidiger rückten bei Ballbesitz ins Mttelfeld vor, welches ansonsten durch Holtby, Mangala und Gideon Jung unterbesetzt geblieben wäre. Bei Ballverlust und erfolgslosem Gegenpressing ließen sich Douglas Santos und Sakai zurückfallen. So konnte die Dreierkette im Bedarfsfall grundsätzlich zügig zur Fünferkette erweitert werden.

Sofern Doulgas Santos mit Ball offensiv nach vorne drängte, wich Jatta nach links außen aus. So wurde Platz für den vorrückenden Brasilianer in der Mitte geschaffen, und gleichzeitig stand Jatta als Anspielstation auf dem Flügel zur Verfügung. Wenn man sich das Personal anschaut, so meine ich, dass sich schon vorab in der theoretischen Konzeption die Gefahr erkennen ließ, dass die rechte Außenbahn an Wirkung verlieren würe. Denn weder hat Sakai die Qualitäten eines Santos, noch waren der tendenziell nach rechts orientierte Sechser Gideon Jung oder Holtby vorab so stark einzuschätzen, dass man von ihnen eine gleichgewichtige Ausrichtung des HSV-Spiels im Zusammenspiel mit Sakai erwarten konnte. Dass ein Lasogga auf dem Flügel verschenkt ist, dies darf man wohl als längst hinlänglich nachgewiesen und bekannt voraussetzen und sei hier nur der Vollständigkeithalber erwähnt. Die erste daraus zu erwartende Problemzone soll das rechte Oval in der Grafik veranschaulichen.

Sofern Mangala bei Ballbesitz nach vorne stieß, rückte Jung zur Absicherung ins Zentrum. Da es sich längst auch bis nach Magdeburg herumgesprochen hat, dass es keine gute Idee ist, den HSV spielen zu lassen, es im Gegenteil sogar anzuraten ist, ihn möglichst frühzeitig zu beschäftigen, ließ Oenning seine Elf aus einem 4-4-2 entschlossen nach vorne pressen. Dadurch wurde Hamburgs heimlicher Spielmacher Douglas Santos meist defensiv gebunden. Zudem wurde im Spielverlauf eine zweite Problemzone aus Sicht des HSV erkennbar: Jung konnte als defensiverer der beiden Sechser vom 1. FCM oft mühelos personell umstellt werden, was zu Ball – und Tempoverlusten auf Seiten des HSV führte. Außerdem verschwanden die gedachten Anspielstationen im Mittelfeld aus Sicht der Hamburger Abwehr häufig im Deckungsschatten des vordrängenden Offensivpersonals der Gäste. In der Summe wirkten die Magdeburger, als seien sie bereits im Mittelfed permanent in der personellen Überzahl. Dies auch deswegen, weil klar erkennbar war, wie sehr es Jung in seiner derzeitigen Verfassung an Handlungsschnelligkeit und auch Selbstbewusstsein fehlt. Ich habe über 90 Minuten kaum einen Pass von ihm gesehen, den man nicht als Sicherheits(rück)pass einstufen muss. Strategische Pässe mit offensiver Wirkung? Fehlanzeige. In der 22. Minute hätte er bereits um ein Haar den Führungstrefer für die Gäste verschuldet, weil es ihm an Handlungsschnelligkeit fehlte, was zum Ballverlust im zentralen Mittelfeld führte. Der daraus resultierende schnelle Gegenstoß der Gäste führte zwar zu einem Torerfolg. Dieser wurde aber wegen einer angeblichen Abseitsstellung nicht anerkannt. Die erste einer Reihe von zweifelhaften Entscheidungen von Schiedsrichter Dankert und seinem Gespann.

Wenn man von einem vereinzelten Beinschussversuch von Holtby gegen Magdeburgs Torwart in der 13. Minute absieht, dann dominierten die Magdeburger vom Anpfiff an im Stile einer Heimmannschaft. Der HSV bekam insbesondere im Mittelfeld wenig Zugriff auf Ball und Gegner. So brauchte es einen Standard, einen von Douglas Santos getretenen Freistoß vom rechten Flügel, damit der HSV gefährlich wurde. Jatta reagierte am schnellsten auf die zu kurze Kopfballabwehr der Gäste und vollstreckte aus ca. 10 Metern ins lange Eck zur 1:0-Führung (31.) für den HSV. Kurz darauf holte sich Lewis Holtby für ein taktisches Foul im Mittelfeld den 5. gelben Karton (35.) und fällt daher gesperrt gegen den 1. FC Köln aus. Eine Minute später wären die Gäste fast durch einen Kopfball von Bültner zum Ausgleich gekommen, aber Sakai rettete für den bereits geschlagenen Pollersbeck. So ging es mit einer knappen und nicht unglücklichen Führung für die Hamburger in die Pause.

Sinnhaftigkeit der Startformation

Wer gedacht hatte, Hannes Wolf würde auf den Spielverlauf durch personelle Veränderungen in der Pause reagieren, sah sich nach Wiederbeginn rasch enttäuscht. Bevor man die von Wolf gewählte Startformation pauschal aber als „zu defensiv“ abqualifiziert, sind aus Fairnessgründen einige Argumente für eben diese Formation und Taktik zu erwähnen. Zum einen hat der HSV in dieser Grundformation erfolgreich das vorangegangene Pokalspiel absolviert. Zweitens scheint man der Auffassung zu sein, dass die Integration von Papadopoulos aufgrund seiner Leaderqualitäten einen Mehrwert für die Mannschaft bringt. Wenn man also nicht mit Bates oder van Drongelen einen der im bisherigen Saisonverlauf überwiegend gut performenden zwei Innenverteidiger opfern will, dann drängt sich der Gedanke mit der Dreierkette im Prinzip auf. Auch erscheint es keineswegs abwegig, die Gelegenheit nutzen zu wollen, um die Mannschaft in Erwartung des kommenden offensivstarken Gegners, 1. FC Köln, weiter mit diesem System vertraut zu machen. Dennoch ist hier kritisch festzustellen: Gideon Jung war eindeutig ein Unsicherheitsfaktor. Er ist erkennbar noch weit von seiner Bestform entfernt. Der rechte Flügel war mit Sakai allein (ohne Narey vor ihm) offensiv praktisch nicht existent. Der Spielverlauf zeigte erneut, wie wirkungslos zudem Lasogga ist, sofern er nicht maßgerecht ins Spiel eingebunden und bedient wird. Erneut konnte er kaum Bälle festmachen, erneut zeigte er technische Unzulänglichkeiten bei der Ballablage in Serie. Daraus resultierte der optische Eindruck, als spielten die Gäste fast mit zwei Mann mehr. Das Mittelfeldspiel des HSV, einmal mehr das Grauen. Ich hatte zur Pause auf Twitter die sofortige Umstellung auf ein 4-1-4-1 angedacht und dabei vor allem auf den Einsatz von Narey gehofft. Sinnvoller wäre mir jedoch eine Umstellung auf ein 4-2-3-1 erschienen, um zum einen das eigene Mittelfeld personell aufzustocken und die Chance hier auf den Zugriff zu erhöhen. Durch die offensive Aufwertung der rechten Außenbahn wäre der Gegner auch stärker in der eigenen Abwehr gebunden gewesen und das bis dahin meist einseitig akzentuierte Angriffsspiel wäre dadurch wahrscheinlich variabler geworden. Wolf aber beließ es bei der Grundordnung. Die wesentlichen Kernelemente seiner Idee, Dreierkette mit Papadopoulos und Schwachpunkt Jung, blieben unangetastet. Beinahe wäre dem HSV dennoch das zweite Tor gelungen, denn nach einem klaren Handspiel von Müller im Strafraum erkannte Dankert nicht auf den meines Erachtens klar fälligen Strafstoß.

Unter diesen Umständen kam, was fast schon kommen musste: nach erneutem Ballverlust im Mittelfeld konnte Bates im Laufduell die Innenbahn gegen Bültner nicht schließen, sodass diesem trotz dreier nomineller Innenverteidiger fast mühelos der Durchbruch durch die Defensive und dann auch der Ausgleichstreffer gelang (61.).

Wolf reagiert nun personell und nahm zu meinem größten Erstaunen ausgerechnet den schnellsten Offensivspieler, Jatta, vom Feld und brachte Özcan. Dieser besetzte den linken Flügel. Da er aber nun vermehrt von dort nach innen zog, war es Douglas Santos, der für die Breite auf dem Flügel sorgte. Deutlich besser wurde das Spiel des HSV dadurch meiner Meinung nach nicht. Weiterhin war zu sehen, dass zwischen Offensivpersonal und Abwehr oft Anbindung und Kompaktheit fehlten.

Mit dem nächsten Wechsel kam dann doch endlich der schnelle Narey, jedoch ging zugleich mit Sakai der Rechtsverteidiger vom Feld (76.). Die oben aufgezählten Grunddefizite, mangelnde Balance, mangelndes Tempo, mangelnde Anbindung, wurden dadurch wieder nicht angegangen, vielmehr wurde nun sogar die Abwehr geschwächt. Ein weiterer Fehler, wie sich noch zeigen sollte.

In der 83. Minute kam Köhlert zu seinem zweiten Einsatz. Für ihn musste Holtby weichen, der bis dahin gewohnt fleissig aber eben leider auch gewohnt ineffektiv gespielt hatte. Köhlert belebte die linke Außenbahn und erlaubte so Özcan nun zentraler hinter Lasogga zu spielen. Auch wenn der HSV in der Schlussphase auf den Siegtreffer drängte, so richtig klare Chancen ergaben sich auch dadurch nicht. Vielmehr lud man den Gegner wie bereits schon im Spiel gegen Darmstadt 98 zum kontern ein. Und so verwundert es nicht, dass Magdeburg in der Nachspielzeit ein Freistoß zugeprochen wurde, der dann über Umwege zu Türpitz kam, welchem fast mit dem Schlusspfiff der keineswegs unverdiente Siegtreffer für die Gäste gelang (90+4.).

Fazit: Hannes Wolf ist ein junger Trainer. Eine Trainerdiskussion ist meines Erachtens vollkommen fehl am Platz. Er hat nachweisbar die Mannschaft taktisch weiterentwickelt. Nach dem 4-1-4-1 zu Saisonbeginn, einem zwischenzeitlichen 4-2-3-1, nun also zum zweiten Male die Dreier- bzw. Fünferkette. Alle Systeme wurden zudem gegnerangepasst von ihm variiert. Dennoch muss man ihm wie schon gegen den SSV Jahn Regensburg, als er den deutlichst gelb-rot gefährdeten Mangala nicht rechtzeitig vom Platz nahm und so seine Mannschaft vor einem Spiel in Unterzahl bewahrte, für diese Partie eklatante Versäumnisse vorhalten. Dass Lasogga Defizite besitzt aber dennoch benötigt wird, führt bei der derzeitigen Personallage (ohne Hwang und Hunt und ohne den formschwachen Arp) zudem in jedem Spiel von vornherein zu gewissen Einschränkungen. Zwar steht die Mannschaft am Ende auf dem Platz, aber ein Trainer steht eben auch deswegen am Spielfeldrand, weil man ihm zubilligt, von dort den Überblick zu behalten. Fehleinschätzungen und Irrtümer sind nur menschlich. Auch Trainern können diese unterlaufen. Es ist aber auch klare, unbestreitbare Aufgabe eines Trainers, auf konkrete Spielverläufe zu reagieren, notfalls auch einen vorab ausgetüftelten Plan zu korrigieren, sofern dieser nicht die erwünschte Wirkung entfaltet. Dies hat Wolf hier gleich mehrfach sträflich versäumt. Der HSV verliert am Ende verdient und mit Ansage. Auch weil das in-Game-Coaching von Wolf zum wiederholten Male zu wünschen übrig ließ. Aber so sehr mich diese vermeidbare Niederlage auch ärgert, für Katastrophenszenarien besteht kein Anlass. Noch hat man in Sachen Aufstieg weiter alles in eigener Hand. Allerdings muss die Fehlerquote bei Mannschaft und Trainer sinken, will man ein böses Erwachen zum Saisonende vermeiden.

Am Ende ist und bleibt Fußball Ergebnissport. Die unlängst von Bernd Hoffmann in Richtung Hannes Wolf ausgesprochene Jobgarantie ist nichts mehr als eine erfreuliche Absichtserklärung im Hinblick darauf, dass man auch in zu erwartenden Krisen Geduld haben will. Um eine Garantie im eigentlichen Sinne handelt es sich natürlich nicht. Und das ist auch gut so. Viele Fehler dieser Art sollte sich Wolf zukünftig besser nicht leisten.

Schiedsrichter: Dankert (Rostock): Mehrfach mit zweifelhafter Regelauslegung. Einzig der nicht gegebene Elfmeter nach vermeintlichem Foul an Lasogga erscheint ohne Rautenbrille betrachtet unter den strittigen Entscheidungen richtig. Schwach.