Vagnoman

Nur der HSV, trotz alledem!

Die gestrige 1:5 Niederlage gegen den SV Sandhausen war eine ganz bittere Pille, die auch ich erst verdauen muss. Heute Morgen las ich beim Durchstöbern von Twitter, die Tanja (@fschmidt77) sei so sauer, dass sie sogar gebloggt hat (www.Raute22c.de). Dies brachte mich auf die Idee, mein selbstverordnetes Schweigen auf diesem Blog ebenfalls ausnahmsweise zu brechen.

Ich weiß nicht, was mich mehr getroffen hat. Die Art und Weise, wie der HSV zum gefühlt x-ten Mal ein Entscheidungsspiel verloren hat, oder die verbalen Entgleisungen sogar von Fans, die ich ansonsten als besonnen und vernünftig erlebe. Bitter.

Wie immer nach solchen Niederlagen feiert der Pauschalvorwurf der mangelhaften Einstellung fröhliche Urständ. Es fehle der Wille, es sei kein Wollen erkennbar, war schon während der 1. Halbzeit zu lesen. Wohl dem, der mit einer derart monokausalen Begründung meint, ein komplexes Geschehen tatsächlich erklären zu können. Warum Fans immer wieder zu diesem oberflächlichen Vorwurf greifen um Niederlagen zu verarbeiten, dazu habe ich bereits in einem älteren Beitrag gebloggt. Und vieles, was ich dort zum Thema schrieb, erscheint mir unverändert aktuell: https://viertermann.com/2019/11/30/auswartskrise-und-einstellungsmangel-vom-sinn-und-unsinn-von-erklarungen/

Doch nun zur aktuellen Niederlage gegen den SVS.
Hecking hatte seine Mannschaft zum zweiten Mal in Folge zu Beginn des Spiels mit einem 3-5-2 ins Spiel geschickt. Ewerton als zentraler IV in einer Dreierkette sollte zusätzliche Lufthoheit bringen, den zuletzt hakenden Spielaufbau aus der Verteidigung beleben und seinen beiden Nebenleuten jene Sicherheit vermitteln, die vor allem van Drongelen in den letzten Wochen leider arg vermissen ließ. Und ich fand, dass tatsächlich die Passrotation und -schärfe innerhalb der Defensive in den ersten 10 Minuten der Partie erkennbar verbessert aussah. Der Ball lief zunächst gepflegt durch die eigenen Reihen. Je tiefer die Ballstaffetten dann jedoch ins Mittelfeld vorgetragen wurden, um so umständlicher und unpräziser wurde gespielt. Das ganze glich dort eher einem Trainingsspiel. Freilaufen, passen, freilaufen, passen – ohne je wirklich torgefährlich zu werden. Im Gegenteil! Es schlichen sich zunehmend Fehler ins Passspiel, die den lauernden Sandhausenern das schnelle Umschalten erlaubten. Dabei bleibe ich aber bei meiner gestrigen Behauptung, dass auch in dieser insgesamt schwachen ersten Halbzeit es nicht am fehlenden Willen der Spieler gelegen hat. Also woran lag es dann? Die Antwort darauf ist vielschichtiger als ein simples „die wollten nicht wirklich“. Also hier mein Versuch einer Antwort:

Die Dechiffrierung der Mannschaft

Bereits im Winter habe ich in einem längeren Podcast in der HSVKloenstuv darauf hingewiesen, dass spätestens ab dem 12. Spieltag das Spielsystem des HSV durch die Konkurrenz hinreichend durchschaut worden ist. Und ich sagte dort ausdrücklich voraus, dass alle Gegner in der Rückrunde sich der Mittel bedienen würden, die sich bis dato als erfolgversprechend aus ihrer Sicht herauskristallisiert hatten. Und hier ist an erster Stelle die mannorientierte Deckung der Schlüsselspieler zu nennen, sowie deren robuste Bekämpfung. Vereinfacht gesagt: Man nehme Fein als Sechser aus dem Spiel, stelle die Passwege zu Hunt und Dudziak zu und schaffe durch hohe eigene Laufbereitschaft personelle Überzahl vor allem auf dem mit Leibold und Kittel meist besetzten, gefährlicheren linken HSV-Angriffsflügel (Dazu gesellte sich nach der Corona-Pause als neues Element nur die Deckung von Pohjanpalo als einzig wirklich torgefährlichem Stürmer). Dies gepaart mit regelmäßig gezieltem Druck auf beide Innenverteidiger blockierte regelmäßig nicht nur den Spielfluss einer ansonsten überlegenen HSV-Mannschaft sondern sorgt zusätzlich dafür, dass deren Gesamtgebilde immer wackeliger und unsicherer wurde.

Auf das gestrige Spiel bezogen hätte also der wütende Einstellungskritiker durchaus erkennen können, dass sich auch der SVS im Grunde an diese taktische Marschrichtung hielt. Fein stand immer ein Gegner auf den Füßen, und auch Dudziak oder Hunt wurden teilweise bis in die Hälfte des HSV von ihren Gegenspielern verfolgt, so sie sich denn fallen ließen, um dort als Anspielstation für die zunehmend ratloser und ideenloser agierenden Innenverteidiger zu dienen. Wurden die Mittelfeldpieler in dieser Situation angespielt, ergaben sich daraus prinzipiell nur zwei Möglichkeiten: Entweder ließen sie den Ball sofort wieder zurückprallen, dann wurde gar kein Raumgewinn erzielt, oder sie mussten sich unter Gegnerdruck erst mit Ball Richtung Sandhausener Tor drehen, was nicht nur Tempo aus fast jeder Aktion nahm sondern auch die permanente Gefahr des Ballverlustes barg. Je weiter dieser „Zerrüttungsprozess“ der HSV-Spielanlage durch die Sandhausener fortschritt desto häufiger sah man lange Bälle aus der Innenverteidigung um das blockierte Mittelfeld zu überbrücken (, denen dann aber regelmäßig die notwendige Präzision fehlte, was postwendend zu Gegenangriffen führte).

Die Formtiefs

Auch wenn die Mannschaft des HSV körperlich zweifelsohne da aufgrund der Laufleistungsdaten nachweisbar unter Hecking jederzeit fit war, so haben in der Rückrunde einige Spieler nicht mehr die Form gehabt, die sie noch in der Hinrunde hatten. An erster Stelle ist hier Adrian Fein zu nennen, dem die Anpassung seines Spiels an die robuste Manndeckung durch einen Bewacher in der kompletten Rückrunde nicht gelungen ist;

Auch bei Leibold, der unbestreitbar einer der besten Transfers des letzten Sommers ist, schlichen sich zuletzt zunehmend vermeidbare Fehler ins Spiel, die zu Ballverlusten und Gegenangriffen führten. Auch gestern war er m.E. deutlich von seiner Hinrundenform entfernt;

Jatta wirkte nach seinem Fasten im Ramadan fast als hätte man ihm den Stecker gezogen. Seine Antritte sah man zuletzt selten, was aber auch der Tatsache geschuldet ist, dass er aus den bereits oben genannten Gründen kaum je seine Stärke im Laufspiel ausspielen konnte (Gleiches gilt zum Teil für Vagnoman, der als RV in den letzten Spielen oft erst dann angespielt wurde, wenn er schon fast zugestellt war, sodass er seine Stärken nicht mehr entfalten konnte).

Und das sind beileibe nicht alle Spieler, auf die ich hier eingehen könnte. Nur stichwortartig sei hier ergänzend angeführt, dass es mich wenig überrascht, wenn Spieler mit langer Verletzungshistorie (Ewerton, Gyamerah, Kittel, Vagnoman) nicht konstant in Topform performen. Auch das ist keine Frage des Willens oder Wollens, wenn man sich ein wenig auskennt.

Mentales

Ausnahmsweise möchte ich an dieser Stelle kurz Julian Pollerbeck loben, der auf mich nach seiner Rückkehr ins Tor mental stabil wirkte, seine Vorzüge gegenüber Heuer-Fernandes in der Spieleröffnung unterstrich und der vor allem bei hohen Bällen jederzeit einen absolut sicheren Eindruck hinterließ. Auch Hunt wäre hier m.E. zu loben, der keineswegs wie manche ätzen, „nur zwei gute Spiele“ abgeliefert hat. Bei 0:2 zur Ausführung eines Elfmeters in einer derartigen Situation anzutreten und ihn dann derart zu verwandeln, dafür braucht es mentale Stärke, Verantwortungsgefühl und die Bereitschaft voranzugehen. Insgesamt aber habe ich den Eindruck, dass unter anderem auch der Mangel an Handlungsgeschwindigkeit und -sicherheit bei einigen Spielern des noch aktuellen Kaders zu wünschen übrig ließ. Womit ich bei Qualitätsmängeln wäre, die z.T. auch im mentalen Bereich zu verorten sind.

Qualitätsmängel

Wenn ich eben Handlungsgeschwindigkeit und -sicherheit kritisierte, dann gilt das vor allem für Rick van Drongelen. Er (aber auch Letschert) benötigt viel zu lange, um vertikale Passoptionen zu erkennen und selbst wenn er sie erkennt, dann fehlt den Pässen die Präzision und Schärfe. Dazu agiert er bei seinen Vorstößen mit Ball wie Westermann 2.0. Der Ballverlust ist praktisch eingepreist oder aber, das ist die häufigere Variante, seine Vorstöße verpuffen im großen Nichts und führen bestenfalls zum Rückpass auf seinen jeweiligen Partner in der Innenverteidigung. Dazu gesellen sich immer wieder eklatante Stellungsfehler. Auch gestern wieder hätte er den Führungstreffer für Sandhausen verhindern können, wenn er vor und nicht hinter dem Mann gewesen wäre. Dazu kommt sein für einen ausgebildeten Innenverteidiger eher schwaches Kopfballspiel. Sowohl offensiv als auch defensiv. Natürlich ist mir klar, dass er immer noch ein junger Spieler ist, andererseits gebe ich zu bedenken, dass er inzwischen auf ein halben Jahr 1. Bundesliga und zwei komplette Spielzeiten in der zweiten Liga zurückblickt, ohnedass eine wirkliche Entwicklung erkennbar ist. Auch bei einem Harnik muss ich mich fragen, ob die Qualität noch ausreicht, wenn man in die 1. Liga aufsteigen wollte, der Spieler aber klarste Torchancen wie auch gestern wieder auslässt. An dieser Stelle möchte ich kurz darauf hinweisen, dass jedem Wettkampf in der Regel ein Momentum innewohnt, das mal auf die eine mal auf die andere Seite kippt (kippen kann). Wenn eine Mannschaft also nicht in Führung geht, weil bspw. die Chancen nicht genutzt werden, dann baut dies gewöhnlich irgendwann den Gegner auf, denn es gibt ihm Sicherheit. Auch das ist ein kleiner Teil eines Erklärungsansatzes, der über die simplifizierende Behauptung eines angeblich fehlenden Wollens hinausreicht. Insgesamt wird man sich sowohl in Sachen Lufthoheit in der Innenverteidung als auch in der Frage des Spielaufbaus Gedanken machen müssen. Es fehlt meines Erachtens auch eine robuste und strategisch-defensiv denkende Alternative zum Spielertypus eines Adrian Feins.

Auch das man sich nach einer verunglückten Kopfballablage in der gegnerischen Hälfte auskontern lässt, ist für mich ein Indiz für individualtaktisches Fehlverhalten, nicht für fehlende Leistungsbereitschaft. Im Gegenteil bin ich der Meinung, dass man nach der z.T. verletzungsbedingten Systemumstellung nach der Pause erkennen konnte, dass die Mannschaft auch bei einem 0:2 durchaus „wollte“. Der mentale Genickbruch erfolgte mit dem vom gerade erst eingewechselten jungen Vagnoman unglücklich verursachten Elfmeter für Sandhausen, der dann zum 1:3 führte. Das war aber bereits in der 84. Spielminute! Ich lese aus der ab diesem Zeitpunkt erkennbaren Resignation einen indirekten Beleg dafür, wie tatsächlich mental angeschlagen das Team durch die Misserfolgserlebnisse der vergangenen Wochen schon vor dem Spiel gewesen ist. Mentale Angeschlagenheit verhindert aber Spitzenleistung. Wer etwas anderes behauptet, oder sich gar zu der Behauptung versteigt, Spitzenleistung sei nur eine Frage des Wollens, der dokumtiert allein seine größtmögliche Ahnungslosigkeit von Sport- und Wettkampfpsychologie.

Damit sind übrigens keineswegs auch nur annähernd alle Gesichtspunkte erörtert, die Ansatzpunkte liefern, um das gestrige Geschehen in Zusammenhängen und differenziert zu betrachten und verständlich zu machen. Wer denoch meint, er müsse mit dem Verein brechen oder etwa zum Verzicht auf den Kauf einer Dauerkarte rät, mag dies machen, meine Welt ist das nicht und wird es nicht werden.

Ich bin einfach sehr traurig, weil mein Herzensverein ein weiteres Mal eine Chance verpasst hat. Die Detailanalyse der Gründe überlasse ich den Verantwortlichen, denn die sind allemal kompetenter (und vor allem näher dran!) als ich oder gar jene Kritiker, deren größte nachweisbare sportlichen Erfolge das Erklimmen von Sitzmöbeln sind. Obgleich ich sehr wohl die Unzufriedenheit verstehe, die manchen zu seinen Aussagen veranlasst. Der HSV bleibt ligaunabhängig ein reiner Weltverein, wie uns die @GroteRuetze auf Twitter regelmäßig ins Gedächtnis ruft. Und deswegen gilt für mich: Nur der HSV! – trotz alledem.

ps.1: Gute Besserung, Rick!

ps.2: Glückwunsch an Ambrosius zu seinem Einsatz. Eine Fliege macht zwar noch lange keinen Sommer, aber das sah schon sehr gut aus. Weiter so!

ps.3: Glückwunsch an den FC Heidenheim für eine tolle Saison, ganz egal wie die Relegation auch ausgehen mag.

Hinweis: ich musste die letzten Absätze nach der Erstveröffentlichung aus dem Gedächtnis neu schreiben, da beim nachträglichen Beheben eines Formatierungsfehlers das Ende des Textes verloren ging.

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In Hamburg sagt man „tschüss“, HSV

Nach reiflicher Überlegung wird dies wohl mein letzter Blog-Eintrag zum HSV werden. Das Blog Viertermann.com wird noch bis Ende des Jahres online bleiben, dass es aber danach hier weiter geht, kann ich mir Stand heute nicht mehr vorstellen.

Seit Jahren, ja Jahrzehnten bin ich als Fan von meinem Verein, dem HSV, regelmäßig enttäuscht worden. Nun bin ich wahrlich kein Erfolgsfan und habe auch in schlechteren und ganz schlechten Zeiten immer zum Club gestanden. Aber in den letzten Monaten hat es den Anschein, als sei etwas in mir endgültig zerbrochen, nämlich die begründete Hoffnung, dass dieser einstmals ruhmreiche Club in absehbarer Zeit die richtigen Schlüsse aus dem seit mehr als vierzig Jahren währenden Niedergang ziehen wird.

Einst Nummer Zwei (2!) in Europa (hinter dem FC Liverpool) ist man inzwischen in den Niederungen der 2. Liga angekommen. Und auch hier wurde in der abgelaufenen Saison das sportliche Minimalziel, die sofortige Rückkehr in die 1. Bundesliga, notfalls über den Umweg „Relegation“, leichtfertig erneut verpasst. Ein Scheitern mit Ansage, wie ich finde. Da mochten die ehemals Verantwortlichen noch so sehr die angebliche Ausgeglichenheit der 2. Liga betonen, Tatsache ist, was die finanziellen Aufwendungen für den Kader betraf, so hatte der HSV nur einen ernsthaften Konkurrenten zu fürchten, den 1. FC Köln.

Geld schießt keine Tore, wird der eine oder andere an dieser Stelle einwenden und auf das Beispiel der jüngst aufgestiegenen Paderborner verweisen. Und doch bleibt festzustellen, dass finanzieller Aufwand und Ertrag beim HSV seit Jahren in einem ruinösen Missverhältnis stehen. Anders als bei anderen Vereinen. Auch wenn der Aufstieg der Paderborner einem kleinen sportlichen Wunder gleichkommt, so dürfte im Grunde jedem klar sein, dass diesem Verein, gerade weil er finanziell hoffnungslos unterlegen ist, vermutlich nur eine sehr kurze Stippvisite in der 1. Liga vergönnt sein wird. Merke: Geld allein schießt nicht die Tore, – gerade der HSV hat dies regelmäßig bewiesen! – aber unbestreitbar bleibt eben auch, dass Geld die unverzichtbare Voraussetzung ist, um die Chance des Zugriffs auf talentierte Spieler merklich zu erhöhen.

In der abgelaufenen Saison hatte nur ein Verein, der 1. FC Köln, finanziell gleiche, bzw. bessere Voraussetzungen. In der kommenden Spielzeit wird der HSV nun, sollte der VfB Stuttgart in der Relegation scheitern, mit gleich drei Bundesligisten (Hannover 96, 1. FC Nürnberg und eben dem VfB) konkurrieren müssen, die sicherlich mit aller Macht die sofortige Rückkehr in die 1. Liga anstreben dürften. Es werden also mehrere Mitkonkurrenten am Start sein, die über vergleichbare finanzielle Möglichkeiten verfügen. Dies spricht für die Annahme, dass sich der Wettbewerb, in dem der HSV in der abgelaufenen Saison gemessen an seinen Zielen total versagt hat, weiter verschärfen dürfte. Mit anderen Worten: Den Aufstieg in der kommenden Spielzeit zu erreichen dürfte weit schwieriger werden.

Wolf und Becker entlassen

Von Hannes Wolf als Trainer hat man sich bekanntlich allen Lippenbekenntnissen zu Durchhaltevermögen und Kontinuität anlässlich seiner damaligen Präsentation zum Trotz getrennt. Zur Begründung wurde auf „die unbefriedigende sportliche Entwicklung“ verwiesen. Nun kann man die Arbeit von Wolf sicher an einigen Punkten begründet kritisieren, jedoch sei auf zwei Punkte hingewiesen:

1.) Ihm war keine gemeinsame Sommervorbereitung mit der Mannschaft vergönnt;

2.) Der Kader, mit dem er arbeiten musste, wurde im Wesentlichen von anderen Personen geplant und zusammengestellt. Dass auch er sich hinsichtlich des Leistungsvermögens im Winter tiefgreifend verschätzt hat, hat er selbst eingeräumt.

Ich möchte es so formulieren: Wolf war als Trainer hauptverantwortlich für die Musikauswahl, das Orchester aber, mit dem diese gespielt werden musste, haben im Wesentlichen andere zu verantworten. Der Spielplan, das Ziel sofortiger Aufstieg, war ihm ohnehin von der Intendanz, Bernd Hoffmann, vorgegeben worden.

Am gestrigen Tag verkündete der HSV dann die sofortige Freistellung von Sportvorstand Ralf Becker und präsentierte als dessen Nachfolger Jonas Boldt. Auch Becker sind m.E. Fehler anzulasten, so zum Beispiel sein fragwürdiges Krisenmanagement oder sein naiver Umgang mit einer einschlägig beleumundeten Boulevard-Zeitung, der er (vielleicht) die Freistellung von Wolf nach Saisonende verriet. Aber auch Becker kam erst, nachdem der Kader im Wesentlichen bereits feststand. Und auch Becker arbeitete unter der Zielvorgabe Hoffmanns.

Der AR bewertet da formal zuständig, aber auf Grundlage welcher Qualifikation?

Die Bewertung der unbefriedigenden sportlichen Entwicklung habe den Aufsichtsrat zur Freistellung Beckers veranlasst, verkündete dessen Vorsitzender Köttgen auf der gestrigen PK. Da das von Hoffmann ausgegebene Ziel, sofortiger Aufstieg, verpasst wurde, scheint dies zunächst plausibel und nachvollziehbar. Denn der „Vorstand Sport“ trägt die Gesamtverantwortung für den sportlichen Bereich. Eben so begründet erscheint auch auf den ersten Blick, dass der Vorsitzende des Kontrollgremiums, das formal für die Berufung und Abberufung eines Vorstands zuständig ist, diese Entscheidung auch öffentlich vertritt und begründet. Mehr als fragwürdig ist aber, wer in diesem Gremium über die sportfachliche Qualifikation verfügt, um eine sportliche Entwicklung unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte sachgerecht zu beurteilen. Die bloße Feststellung, dass das gesetzte Ziel kläglich verfehlt wurde, bedarf im Grunde gar keiner Qualifikation, denn dies ist für jeden Laien mehr als offensichtlich. Anders verhält es sich aber bei der differenzierten Bewertung der dafür maßgeblichen Faktoren.

Traditionell verpasste Ziele

In Hamburg könne man nichts anderes als den sofortigen Wiederaufstieg verkaufen, meint Bernd Hoffmann. Und auch Becker sagte vor einiger Zeit, er könne nicht von Platz 5 (als Zielsetzung) reden. Allen im Detail durchaus unterschiedlichen Ansätzen ehemaliger und aktueller Führungskräfte zum Trotz zeigt sich hier eine bemerkenswert gleichförmige Tradition beim HSV. Es wurden und werden stets hohe und höchste Ziele ausgegeben und vor allem Fantasien verkauft. Eine keineswegs abschließende Auswahl:

  • Jarchows 5-Jahresplan bis zur CL
  • „Aufstellen für Europa“ (HSVPlus)
  • Das unter der Ägide von Beiersdorfer für viel Geld erarbeitete Leitbild spricht ebenfalls unverändert vom europäischen Wettbewerb
  • Beiersdorfer / Bruchhagen: in Hamburg müsse man unbedingt „Stars“ präsentieren
  • Sofortiger Aufstieg

Spöttisch formuliert zeigt sich Kontinuität beim HSV einzig im Primat des vollmundigen Marketings vor sachgerechter, sportfachlich qualifizierter, nachhaltiger Arbeit. Daraus abgeleitet ergeben sich fast zwangsläufig weitere, unrühmliche Kostante:

  • regelmäßiges Nichterreichen des gesetzten Saisonziels.;
  • beständiger Austausch von Entscheidungsträgern;
  • Umbruch als Dauerzustand

Ein fatales Missverständnis in Sachen Zielsetzung

Ziele müssten ambitioniert sein, da andernfalls Stagnation und sogar Rückentwicklung drohten. Mit dieser oberfächlich betrachtet zweifellos korrekten Aussage wird dieser Kurs beständig falscher Ankündigungen und Ziele regelmäßig vereins – und fanseitig gerechtfertigt.

Nüchtern festzustellen ist hier aber zunächst, dass der HSV seine Saisonziele in den letzten Jahrzehnten nur im absoluten Ausnahmefall erreichte. Dies lässt sich sogar für die heute rückblickend von Vielen verklärte Periode unter dem damaligen Duo Hoffmann, Beiersdorfer empirisch zweifelsfrei nachweisen. Ein „ambitioniertes“ sportliches Ziel ist aber grundsätzlich eines, dass im Optimalfall erreicht und gelegentlich sogar übertroffen werden kann. Wer aber derart beständig seine Ziele wie der HSV verfehlt, der muss sich fragen lassen, ob es nicht seine Ambitionen sind, die sich in unrealistischen Zielsetzungen manifestierten, was nebenbei die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns dann signifikant erhöht. Abgesehen davon bleibt es eine bisher absolut unbelegte Behauptung, dass man bei Fans, Sponsoren und Medien kein Verständnis für einen sachlicheren Kurs fände. Ich behaupte sogar, dass man durch die damit einhergehenden permanenten Enttäuschungen den Druck selbst verschuldet erhöht. Eben diesen Druck, den man beständig zirkelschlüssig als Begründung für seine kurzatmigen sportlichen und personellen Entscheidungen bemüht.

Keine Zielsetzung ohne Analyse!

Nun also soll es Jonas Boldt richten. Doch wie sieht der Ist-Zustand aus?

  • Boldt wird von Mutzel in den aktuellen Stand der Kaderplanung eingeweiht und sich zunächst einarbeiten müssen.
  • Die Wahl des zukünftigen Trainers steht unverändert aus. Dies ist schon deswegen problematisch, weil der neue Trainer in die Kaderzusammenstellung unbedingt eingebunden werden sollte.
  • Abgänge: Mangala, Hwang, Holtby, Lasogga, Lacroix und Arp sind weg. Douglas Santos soll und will gehen. Weitere Abgänge könnten sein: Ito, Sakai, Pollersbeck, Köhlert, Vagnoman und Papadopoulos u.v.m.
  • Zugänge bisher: Kinsombi, Gyamerah, Dudziak, Hinterseer

Alle anderen Kandidaten möchte ich nicht kommentieren. Ziel bei der Kaderzusammenstellung soll aber die Etablierung einer neuen Achse, einer neuen Strucktur bei den Führungsspielern sein, so hieß es. Dies ist aus meiner Sicht grundsätzlich richtig, notwendig und überfällig, wie ein Blick auf die alte Achse zeigt:

Eine neue Mannschaftsstruktur war auch sportlich unumgänglich

Holtby ist zweifellos ein technisch guter Spieler, der aber bei jedem Trainer der vergangenen Jahre als Stammspieler startete und im weiteren Verlauf zum Ergänzungsspieler mutierte. Der einzige Trainer, unter dem er tatsächlich konstant gute Leistung lieferte, war Christian Titz. Ein Führungsspieler muss aber durch Konstanz den Führungsanspruch untermauern, andernfalls fehlt die Akzeptanz. Dass Holtby in dieser Funktion nicht funktionierte, durfte nicht wirklich überraschen;

Papadopoulos hat eine längst allseits bekannte erhebliche Verletzungshistorie. Seinen langfristigen Ausfall „Pech“ zuzuschreiben, wäre mehr als törricht. Auch der kam praktisch mit Ansage;

Lasogga lieferte, wenn man nur auf Tore oder seine Quote fokussiert. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Zeit der reinen Strafraumstürmer vor Jahren bereits abgelaufen war (Stichwort: B. Romeo). So wie ein Verteidiger heute selbstverständlich auch seinen Beitrag für die Offensive leisten muss, so muss ein Stürmer heute läuferisch auch stark zurückarbeiten. Lasoggas technische Defizite und seine klar erkennbare läuferische Unterlegenheit verunmöglichten ein schnelles Umschaltspiel durch das Zentrum und zwangen grundsätzlich zu einem Spiel über außen. Auch wenn das letzte Saisonspiel gegen Duisburg sportlich bedeutungslos war, so kam es nicht gänzlich von ungefähr, dass man mit schnelleren und technisch besseren Spielern wie Köhlert und Arp auch auf engerem Raum plötzlich Lösungen fand;

Dass Hunt in seinem Alter nicht robuster wird und daher mit Ausfallzeiten durchaus zu rechnen sein musste, hätte bei umsichtigerer Planung auch ins Kalkül gezogen werden können. Lediglich die Aneinanderreihung von gleich drei Muskelfaserrissen kann man hier als Pech bezeichnen.

Ableitung aus dem Ist-Zustand

Wie bereits oben erwähnt, stehen weitere erhebliche personelle Veränderungen im Kader bevor. Zu den derzeit noch ungeklärten Variablen gehört der neue Trainer, dessen Spielsystem und sein konkreter Umgang mit dem Kader. Von den feststehenden vier Neuzugängen einmal abgesehen ist weiterhin völlig offen, wie dieser Kader nicht nur rein fußballerisch zusammengestellt sein wird. Völlig offen und wohl am meisten unterschätzt ist die Frage, wie die unterschiedlichen Charaktäre und Persönlichkeiten dieses Kaders dann unter Druck miteinander umgehen werden. Es ist das eine, beispielweise einen Hinterseer als neuen Führungsspieler zu holen. Ob er die Akzeptanz seiner Kollegen tatsächlich finden wird, hängt jedoch nicht nur von seinem Verhalten im Mannschaftskreis sondern auch von seinen Leistungen auf dem Platz ab. Es sei in diesem Zusammenhang warnend daran erinnert, dass in der Vergangenheit viele neue Spieler des HSV die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnten. Eine funktionierende Hierarchie kann man nicht kaufen, deren Herausbildung benötigt Zeit. Hier lässt sich daher feststellen, dass der HSV bislang lediglich dabei ist, die Voraussetzungen für eine neue Struktur zu schaffen. Gleichwohl halte ich Skepsis und Zurückhaltung aus den genannten Gründen für angebracht. Die Kader der letzten Spielzeiten wiesen regelmäßig schwere Defizite auf, was die jeweils Verantwortlichen durch Nachverpflichtungen wie Spahic, Behrami und Mavraj jeweils kompensieren mussten und wollten. Der „Erfolg“ dürfte bekannt sein.

Der HSV hat also aktuell weder einen Trainer noch einen fixen Kader. Noch ist klar, ob und wie die Mannschaft zusammenwächst. Die so wichtige intakte Hierarchie kann und wird sich erst im Laufe der Saison entwickeln müssen. Nach einer desaströsen Rückrunde, die mindestens zu Saisonbeginn in den Köpfen der weiterhin beim HSV verbleibenden Spieler noch nachwirken wird, steht ein kompletter Neuaufbau unter erschwerten Konkurrenzbedingungen (s.o.) bevor. Ich bin völlig bei Hannes Wolf , dass unter diesen Bedingungen eine Konsolidierung im oberen Tabellenbereich sachlich begründet und angemessen wäre. Dies bedeutet eben nicht die grundsätzliche Preisgabe des Ziels Aufstieg und das Einrichten im grauen Mittelmaß der 2. Liga! Ein erneuter Platz 4 oder 5 mag zwar jene enttäuschen, die eine zügige Rückkehr in die Bundesliga sehnlichst erwarten, es wäre unter den Umständen jedoch ein erfolgreicher Zwischenschritt, den man als solchen auch erklären könnte. Damit würde man auch den nicht zuletzt selbstverschuldeten Druck etwas reduzieren. Denn eins ist auch unbestreitbar: Von Kontinuität wird vom HSV unverändert nur geredet. Die Fakten beweisen das exakte Gegenteil! Finanziell unterlegene Vereine, wie Paderborn oder Union sind aber auch nicht zu letzt deswegen erfolgreich, weil sie auch davon weniger reden sondern entsprechend konsequent handeln.

Konsequent unbelehrbar

Der HSV verkauft seit Jahren unbeirrbar und offenbar unbelehrbar Mogelpackungen. Gestern Europa, heute der Aufstieg. Die berühmt-berüchtigte Uhr, sie ist vor einem Jahr abgelaufen. Statt sie zu entsorgen, hat man sie mittels eines Taschenspielertricks einfach umgestellt. Als wäre im Grunde nichts geschehen. Bei „Hamburg, meine Perle“ werden unverändert in jeder Strophe Gegner verspottet, mit denen man in Wahrheit schon lange nicht mehr auf Augenhöhe ist. Die Realität, sie heißt Bochum, Bielefeld, Heidenheim, Aue oder Kiel, aber gesanglich zieht man ungerührt und offenbar unbelehrbar den Bayern die Lederhosen aus. Das, wie auch die ewig überhöhten Ankündigungen, beschreibt den Club leider treffender als alles, was die Verantwortlichen in den letzten Jahren angekündigt haben.

Da der HSV aus meiner Sicht reinem Marketing-Denken und effektheischenden statt sachlich-fachlich begründeten Zielen verhaftet bleibt, letztlich substanzlose Ankündigungen das Handeln seiner Entscheidungsträger bestimmen, vermag ich inzwischen nicht mehr an eine nachhaltige Besserung beim HSV zu glauben. Boldt, dem ich wie dem neuen Trainer selbstverständlich nur das Beste wünsche, bleibt für mich bis zum Beweis des Gegenteils nur ein weiterer auf der langen Liste der Hoffnungsträger. Und zwar ein weiterer auf Abruf.

Der HSV, ich schrieb es hier unlängst, geht einer höchst ungewissen Zukunft entgegen. Ich werde diese ab sofort nur noch aus der Ferne begleiten. In Hamburg sagt man „tschüss!“

Nachtrag: Ich möchte mich an dieser Stelle herzlichst bei Euch bedanken, dass Ihr mir über all die Jahre immer wieder einige Minuten eurer Zeit geschenkt habt, um meinen Gedanken zu folgen. Dafür und für die durchweg wertschätzenden Kommentare bin ich sehr dankbar!