Ribery

Historische Niederlage mit vielfältigen Ursachen: FC Bayern München – HSV 8:0 (3:0)

„Es ist längst ein Klassenunterschied.“ (Kommentar M. Reif auf SKY, 52. Spielminute)

Man stelle sich vor: Ein normaler VW-Golf tritt gegen einen aufgerüsteten Porsche zu einem Rennen über die Meile an. Nach 900 Metern hat der Porsche wie zu erwarten einen deutlichen Vorsprung. Da dämmert es auch dem kommentierenden Rennbeobachter, dass ein Klassenunterschied bei diesem Wettkampf vorliegt. Donnerwetter, Herr Reif, was für eine Expertise! Ich bin angemessen beeindruckt.

Tatsächlich entwickelt sich die Bundesliga in die höchst bedenkliche Richtung eines einseitigen Wettbewerbs. Angesichts der eklatant ungleichen Voraussetzungen der Vereine, erscheint bis auf Weiteres jedes Jahr der Titel fest nach München vergeben. Derzeit ist im Prinzip ausschließlich fraglich, ob der FC Bayern bereits im März oder „erst“ im April vorzeitig Deutscher Meister wird. Und wieviele Punkte Vorsprung die Mannschaft bis dahin auf die grundsätzlich chancenlose Konkurrenz herausgespielt hat. Wer da ernsthaft von „Bayern-Verfolgern“ redet, der ignoriert die Realität. Daran ändert auch nichts, dass es dem VfL Wolfsburg tatsächlich zum Rückrundenauftakt gelang, den Dominatoren der Liga ausnahmsweise eine Niederlage zuzufügen. Derartiges passt allerdings all jenen nur zu gut ins Geschäft, die von dieser Konstellation profitieren (FCB), die das Produkt Bundesliga vermarkten (DFL), oder die ihre exorbitanten Investitionen (Übertragungsrechte) durch entsprechend schönfärberische Berichterstattung refinanzieren müssen (SKY). All jene haben ein Interesse daran, dass dem Zuschauer inzwischen eine Illusion verkauft wird.

Um nicht missverstanden zu werden: Der FC Bayern München hat sich seinen Wettbewerbsvorteil durch jahrzehntelange, hervorragende Arbeit ebenso verdient, wie der Hamburger SV seinen inzwischen mehr als deutlichen sportlichen und  finanziellen Rückstand durch überwiegend desaströse Fehlentscheidungen, Missmanagement und sportliche Inkompetenz selbst zu verantworten hat. Aber was will man eigentlich erwarten, wenn eine der absolut besten Mannschaften des Planeten gegen einen Mitbewerber antritt, dem in der gesamten Vorsaison lächerliche 27 Zähler gelangen? Selbst wenn dem HSV am Ende dieser Saison mit 37 Punkten ein eindeutig besseres Saisonresultat gelingen sollte, dann bedeutet dies für die Hamburger immer noch Abstiegskampf, nichts anderes.

Natürlich, der Sport schreibt immer wieder die tollsten Geschichten. Sensationelle Erfolge eines krassen Aussenseiters sind nie gänzlich auszuschließen. Dies ist schließlich Teil seiner Faszination. Dennoch sollte die Einschätzung realistisch bleiben. Über die Jahrzehnte hat der FCB nicht nur fachlich sinnvoll und kontinuierlich hervorragend gearbeitet, sondern inzwischen im Vergleich u.a. zum HSV vermutlich einen Betrag in seine Mannschaft mehr investieren können, der im Milliardenbereich liegen dürfte. In Euro. Es ist daher auch nicht das medial kolportierte s.g. „Bayern-Gen“, aus dem der Wettbewerbsvorsprung resultiert, sondern die auf fast allen Ebenen (Personalauswahl, Training, Scouting, medizinische Betreuung und Finanzen) bessere Arbeit des FCB, die von einer ehrgeizigen Anspruchshaltung der Münchner dann zusätzlich zu einer selbstbewussten „mia-san-mia-Mentalität“ im Wettkampf führt. Doch genug der Vorrede.

HSV-Trainer Joe Zinnbauer überraschte mit der folgenden Aufstellung: Drobny – Götz, Djourou, Westermann, Marcos (57. Ostrzolek) – Stieber, van der Vaart (57. Jiracek), Diaz, Jansen – Rudnevs, Olic (24. N. Müller)

Diskutabel erscheint hier zunächst, dass Westermann für den zuletzt tadellos spielenden Rajkovic neben Djourou in die Innenverteidigung zurückkehrte. Nachträglich wurde dies mit leichten Geschwindigkeitsvorteilen Westermanns begründet. Da Zinnbauer hier über exakte Daten und Eindrücke aus dem täglichen Training verfügt, will und kann ich hier keinen Fehler erkennen. Schon gar keinen spielentscheidenden. Allerdings hätte ich auf diesen Wechsel verzichtet.

Götz als RV ist aufgrund der Verletzung Diekmeiers logisch; für Marcos als LV gegen Robben, einen der besten Außen der Welt, hätte ich den erfahreneren Ostrzolek gewählt.

Durch die Besetzung des zentral-defensiven Mittelfelds durch Diaz und van der Vaart wollte Zinnbauer mutmaßlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits wurde Erfahrung auf den Platz gebracht, andererseits sollten beide wohl durch ihre Pass-Stärke zielgerichtete Konter einleiten. Ich hielt dies schon vor dem Spiel angesichts des realen Klassenunterschieds (s.o.) für sehr, sehr mutig. Oder anders ausgedrückt für zu riskant. Ich schrieb bereits in vorangegangenen Artikeln, dass m.E. bei dieser Lösung die Mischung zwischen Spielstärke, Dynamik und defensiver Zweikampfstärke suboptimal bleibt. Jiracek oder sogar Kacar für van der Vaart wäre m.M.n. die bessere Wahl gegen die Dominatoren gewesen.

Eine Umstellung auswärts gegen die Bayern auf zwei Stürmer ist mutig und in meinen Augen die konsequente Fortsetzung des von Zinnbauer gewählten Ansatzes: zielgerichtete Pässe aus der Zentrale auf zwei denkbare Abnehmer – das ist variabler und damit schwerer auszurechnen. Hätte theoretisch funktionieren können.

Spielfilm: Abweichend zu meinen bisherigen Spielberichten möchte ich darauf verzichten, die Entstehungsgeschichte jedes einzelnen Tores hier darzustellen. Stattdessen nun einige Beobachtungen zu Spielverlauf und Taktik.

Die Bayern waren wie zu erwarten sofort dominant. Der HSV versuchte sich spielerisch aus der Defensive zu befreien und verzichtete weitestgehend auf das destruktive Gebolze der beiden vorangegangenen Spiele (SCP, H96). In einem überwiegend flachen 4-4-2 versuchte man die Breite des Feldes gegen die Münchner abzudecken, von denen allgemein bekannt sein dürfte, dass sie unerhört schnell den Ball zirkulieren lassen können, was regelmäßig bei ihnen zu schnellen Seitenverlagerungen führt. Zunächst standen beide Hamburger Viererketten  auch eng genug beieinander, jedoch sah man früh, dass dem Duo Diaz/van der Vaart eben jene Dynamik fehlt, die man benötigt, um tatsächlich Zugriff auf das Herz des Münchner Spiels im zentral-defensiven Mittelfeld zu bekommen. Van der Vaart kippte bei dem eher seltenen Gelegenheiten zum kontrolllierten Spielaufbau der Hamburger aus der Abwehr in der bekannten Manier ab, es fehlt ihm jedoch an defensiver Zweikampfstärke und an läuferischer Dynamik, sodass dem HSV eben das überhaupt nicht gelang, was den Wolfsburgern als bisher einziger Mannschaft gelungen ist: Schweinsteiger (und damals Xabi Alonso) auf den Füßen zu stehen. Das wirkte sich aus Sicht des HSV fatal aus, da Guardiola vor Schweinsteiger den äußerst beweglichen Götze und den Raumdeuter Thomas Müller positioniert hatte. Van der Vaart läuft viel, aber meist in einem Tempo. Ihm fehlte gegen diesen Gegner das nötige Sprintvermögen.

Der Elfmeter zum 1:0 ist Folge der von der DFL vorgegebenen Regelauslegung zum Handspiel und daher korrekt, wenn auch aus Sicht des jungen Marcos unglücklich. Kein Vorwurf an den Spieler meinerseits an dieser Stelle. Das schnell folgende 2:0 und damit im Grunde bereits die Vorentscheidung war eine von gleich mehreren Fehlentscheidungen, die Schiedsrichter Weiner und sein Gespann fast ohne jede Ausnahme zugunsten der ohnehin übermächtigen Münchner traf. Ausnahme blieb nur der Verzicht auf die gelb-rote Karte gegen van der Vaart, die sich dieser durch ein idiotisches, da völlig unnötiges Foul an Thomas Müller im Mittelfeld (40.), eigentlich mehr als redlich verdient gehabt hätte. Raffa mag ja lobenswert Verantwortung bei Elfmetern übernehmen und in der Kabine flammende Reden halten, aber es ist keineswegs das erste Mal, dass er als Kapitän seinen Trainer durch unbedachte Aktionen im Grunde schon zur Halbzeit dazu nötigt, ihn vom Feld zu nehmen. Auch wenn Knäbel und Zinnbauer ihn öffentlich aus nachvollziehbaren Gründen aus der Schusslinie nehmen – zu einem wirklichen Führungsspieler gehört in meinen Augen mehr. Viel mehr. Womit ich bei einem generellen Defizit in den Kadern des HSV der letzten Jahre wäre. Kaum echte Führungsspieler (Drobny ist im Tor zu weit weg), zu viele Spieler mit notorisch großer Klappe (vor dem Spiel), die dann im realen Spiel zu oft abtauchen. Jansen ist auch so ein Kandidat. Und das schreibe ich, obwohl ich ihn grundsätzlich mag und sehr wohl zu schätzen weiß, was er leisten kann und auch oft genug geleistet hat. Wie er den unerfahren Marcos gegen Ende der ersten Halbzeit und zu Beginn der zweiten Spielhälfte, vor allem beim 4:0 allein in einem eins gegen eins gegen Robben und damit im Regen stehen lassen konnte, – gegen Robben! – bleibt mir ein Rätsel. Fast hätte ich geschrieben, das war eine echte Schweinerei. Dass der HSV nun einen Muskelfaserriss bei Jansen vermeldet, kann diese, gemessen an seinen eigenen Ansprüchen,  mangelhafte Leistung nicht rechtfertigen. Mindestens bis zum fälschlich nicht anerkannten 1:6 in der 63. Spielminute, dem ein langer Sprint Jansens nebst Flanke auf Rudnevs vorausging, war er eben offensichtlich nicht verletzt. Ausschließlich sein späteres Verhalten auf dem Platz lässt sich nachträglich so erklären und entschuldigen. Van der Vaart, Jansen – beide sind dennoch nicht allein schuld, aber auch sie haben zum Desaster von München beigetragen.

Zinnbauer musste Olic leider verletzungsbedingt früh aus dem Spiel nehmen und verdichtete das Mittelfeld zu einem 4-2-3-1, was angesichts des nicht vorhandenen Zugriffs eben dort (s.o.) sinnvoll erschien. Viel zu spät jedoch, nämlich erst beim Spielstand von immerhin 6:0!, kam der Wechsel von Jiracek für van der Vaart und Ostrzolek für Marcos, der gegen einen Robben in Galaform und ohne konsequente Unterstützung durch Jansen absolut überfordert war. Auch hier kein grundsätzlicher  Vorwurf an Marcos. In Hamburg schreit man seit Jahren nach eigenen Talenten, aber wenn die dann auf dem Platz stehen, dann sollen die am besten wie gestandene Profis agieren? Lächerlich. Wer Talente entwickeln will, der muss Geduld haben. Der muss mit Leistungsschwankungen und mitunter auch gröberen Fehlern eben dieser Talente leben. Von den wirklich rar gesäten absoluten Ausnahmetalenten weltweit abgesehen, ist alles andere Unfug. Im Übrigen fand ich, dass durch Jiracek und Ostrzolek etwas mehr Ruhe ins Spiel des HSV kam, was allerdings zusätzlich auch durch nachlassende Münchner begünstigt wurde. Dass beide Spieler bei diesem bereits ernüchternden Spielstand keine Bäume mehr ausreißen konnten, dürften die meisten Leser nachvollziehen können.

Insgesamt verteidigte der resignierende HSV insbesondere in der Schlussphase zu passiv, sodass die letzten Treffer der Bayern mit besserem Einsatzwillen vermeidbar wirkten. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass die Variabilität, die technische und taktische Perfektion des Branchenprimus an solchen Tagen ein nahezu zirzensisches Niveau erreicht, das ganz andere Mannschaften als den HSV der Gegenwart ebenfalls an die Wand spielen kann.

Fazit: Der HSV unterliegt auch in der Höhe verdient. Zinnbauer hat, nachträglich betrachtet, durch seine Aufstellung (zu) viel riskiert. Auch die Auswechslung von van der Vaart hätte m.E. bereits in der Halbzeitpause beim Stand von 3:0 und nicht erst beim 6:0 erfolgen müssen. Aber auch für Zinnbauer gilt, dass man ihm Fehler zugestehen muss. Er wird ganz sicher seine Lehren aus diesem Spiel ziehen. Daher halte ich rein gar nichts von jenen Stimmen, die einem erneuten – wie oft eigentlich noch?!! – Trainerwechsel nunmehr das Wort reden.

Zur Entstehungsgeschichte dieser historischen Rekordniederlage für die Hamburger gehören auch die für den Spielverlauf erheblichen Fehlentscheidungen des Schiedsrichters und die Verletzungsausfälle beim HSV. Vor allem Behrami wurde in diesem Spiel schmerzlichst vermisst. Weitere Gründe für dieses Debakel sind in dem über Jahre unsachgemäß zusammengestellten Kader (zwei Jahre fehlender Sportdirektor…), und der finanziellen Lage, die zum beschleunigten Einbau der Talente geradezu nötigt, zu suchen.

Tore: 1:0 T. Müller (21.); 2:0 Götze (23.); Robben (36.); 4:0 Robben (47.); 5:0 T. Müller (55.); 6:0 Lewandowski (56.); 7:0  Ribéry (69.); 8:0 (Götze)

Schiedsrichter: Weiner (Giesen). Hatte mit seinem Team einen gebrauchten Tag erwischt. Die Entscheidung auf strafbares Handspiel gegen Marcos und Strafstoß ist regeltechnisch vertretbar. Dennoch meine ich, dass die in Deutschland praktizierte Regelauslegung zum Handspiel fragwürdig ist und regelmäßig zu absurden Konsequenzen führt. Marcos vergrößert zwar seine Körperfläche, dies geschieht jedoch aus einer Laufbewegung, bei der die Arme naturgemäß mitschwingen. Außerdem erfolgt der Schuss aus kurzer Distanz (2m). Von einer absichtlichen(!) Handbewegung kann hier meines Erachtens daher keine Rede sein. Es kann nicht sein, dass Abwehrspieler mit hinter dem Rücken verschränkten Armen zum Ball laufen (müssen), weil sie ansonsten Gefahr laufen, einen Elfmeter zu verursachen.

Lewandowski stand beim Schuss von T. Müller vor dem vorentscheidenden 2:0 zwar im Prinzip passiv im Abseits, verdeckte jedoch Drobny durch seine Positionierung die Sicht, was m.M.n. einen strafbaren, aktiven Eingriff ins Spielgeschehen darstellt.

Der Treffer von Rudnevs (63.) hätte Anerkennung finden müssen, da Rudnevs beim Abspiel von Jansen eindeutig nicht im  Abseits stand.

Nachtrag: Las gerade den Blog der geschätzten MrsCgn, die sich Gedanken zum Kommunikationsverhalten des HSV macht. Ungeachtet der Frage, ob ich ihr in jedem einzelnen Punkt zustimme, finde ich den Artikel https://mrscgn.wordpress.com/ lesens- und bedenkenswert.

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Tempo!

Die zentralen Thesen meines letzten Blogs basierten unter anderem auf der Behauptung, dass sich das Fußballspiel im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich beschleunigt habe. Heute möchte ich diesen Gedanken im Hinblick auf vergangene und zukünftige Entwicklungen des Sports und mit Bezug auf den HSV etwas näher beleuchten.

Festzustellen ist zunächst, dass sich die athletischen (konditionellen) und taktischen Fähigkeiten der Spieler über die Jahre nachweisbar verbessert haben. Liefen die Spieler bei der WM 1954 während eines Spiels noch durchschnittlich 4 Kilometer, laufen heute die in diesem Bereich besten der Bundesliga über 13 Kilometer je Spiel.

Dies ist gleich mehreren Faktoren geschuldet:

  1. Die Spieler in den großen Ligen sind heute allesamt Vollprofis, die nicht mehr haupt- oder nebenberuflich einer anderen Tätigkeit nachgehen. Heute ist keiner mehr als Handlungsreisender in Sachen Fußball-Equipment wie seinerzeit Uwe Seeler unterwegs und muss sein Training ggf. selbst organisieren;
  2. In Deutschland trainieren durch die Einführung der dritten Liga deutlich mehr Spieler unter Vollprofi-Bedingungen;
  3. wissenschaftlich fundierte, verbesserte trainingsmethodische Ansätze und  intensive  sportmedizinische Begleitung. Basierte früher Training vielfach auf Erfahrungswissen, so existieren heute geregelte Ausbildungsgänge;
  4. verstärkter Wissenstranfer durch zunehmende Globalisierung/Vernetzung. Stellvertretend seien hier nur die Förderprogramme genannt, mit denen u.a. der DFB deutsche Trainer in andere Länder entsendet.

In Summe führte dies dazu, dass heute deutlich mehr Mannschaften konditionell und taktisch in der Lage sind, einen individuell überlegenen Gegner erfolgreich zu neutralisieren. (Beispiele: Chelseas Sieg im CL-Finale  „da hoam“ gegen den FCB 2011/12;  WM-Spiel 2014 D-ALG).

Geschwindigkeit als Quotient von Strecke durch Zeit.

Eine der Taktiken, um im Fußball zügig zum Torerfolg zu kommen, ist das schnelle Umschaltspiel (Kontern). Dieses ist nun gewiss keine neue Erfindung. Denn in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts etablierte und perfektionierte der argentinische Trainer Herrera bei Inter Mailand den berühmt-berüchtigten Catennacio und gewann mit seiner Mannschaft zweimal den Europapokal der Landesmeister. Diese heute als minimalistisch und destruktiv geschmähte Spielanlage fußte ihrerseits auf taktischen Überlegungen, die bereits in den dreißiger Jahren (also noch deutlich früher) angestellt wurden. Einigermaßen neu  für die Bundesliga in den letzten  Jahren war jedoch die von Slomka bei Hannover 96 daraus abgeleitete systematische Forderung, dass seine damalige Mannschaft spätestens 10 Sekunden nach Balleroberung zum Torabschluss kommen sollte. Diese Forderung basierte wiederum auf der statistischen Erkenntnis, dass die Wahrscheinlichkeit eines Torerfolg signifikant steigt, sofern der Torschuss innerhalb dieser Zeitspanne erfolgt. Daraus ergeben sich zahlreiche Implikationen. Denn eine Ballzirkulation über (theoretisch) unendlich viele Akteure ist damit im Prinzip ausgeschlossen. Zugleich benötigt eine derart angelegte Spielweise pass-/spielstarke Defensivspieler (inklusive Torhüter!), die zielsicher und über wenige Umschaltstationen den Ball zu sprintstarken Offensivspielern befördern können.

Eine andere Möglichkeit, Tempo in das Spiel zu bringen, den Gegner defensiv in Unordnung zu überraschen und damit die Wahrscheinlichkeit eines eigenen Torerfolges zu erhöhen, etablierte  Jürgen Klopp ab 2008 beim BvB. Wie bereits im letzten Blog erwähnt, verlagerte Klopp die Aufgabe der Balleroberung ins mittlere, bzw. vordere Drittel des Spielfeldes durch sofortiges, konsequent-aggressives Gegenpressing im Falle des Ballverlustes. Gewollter Nebeneffekt: Da der Ball idealerweise näher am gegnerischen Tor erobert wurde,  musste anschließend nicht so viel Strecke überwunden werden, damit man in eine aussichtsreiche Schussposition kam. Weniger zu überbrückende Strecke bedeutet gleichzeitig: weniger Zeit für den Gegner, um sich defensiv stabil zu organisieren, was wiederum die Wahrscheinlichkeit eines Torerfolges erhöht.

Eine dritte Variante der Tempoverschärfung lässt sich gegenwärtig beim FC Bayern München unter Pep Guardiola studieren. Aufbauend auf dem Ballbesitz-Fußball eines seiner Vorgänger (van Gaal), lassen Guardiolas Spieler den Ball schneller zirkulieren als die allermeisten Konkurrenten. Diese Spielanlage  folgt der alten Fußballweisheit, dass kein Spieler schneller sei als der Ball.

Die hohe Zirkulation gelingt beim FCB zum einen dank individuell-technischer Klasse, zum anderen über ein hohes Maß an taktischer Variabilität. Wohl keine andere Mannschaft der Bundesliga kann derzeit so flexibel und zielgerichtet innerhalb des laufenden Spiels die taktischen Formationen ändern. Dies gelingt auch deswegen, weil viele Spieler des Münchner Kaders ohne nennenswerte Qualitätseinbußen gleich mehrere taktische Positionen situativ bekleiden können. Beispielhaft sei hier David Alaba genannt, der in der Abwehr als linker Verteidiger in einer Dreierkette, als linker offensiver Außenverteidiger einer „klassischen“ Viererkette und als Ribery-Ersatz auf der linken offensiven Außenbahn funktioniert. Zudem hat der smarte Österreicher in seiner  Nationalelf längst nachgewiesen, dass er auch erfolgreich im defensiven und zentralen Mittelfeld spielen kann. Damit steht Alaba idealtypisch für einen polyvalenten Spieler im Sinne Favres.

Polyvalente, auf  technisch und taktisch höchstem Niveau agierende Spieler ermöglichen nicht nur eine fluide, zielgerichtete Anpassung des eigenen Spiels an den jeweiligen Gegner und Spielverlauf, sondern ersparen situativ die Rückkehr eines Spielers auf seine (eine) Idealposition. Mit anderen Worten: es kann schnell und ohne unnötigen Zeitverlust (Geschwindigkeit) auf  die momentanen Erfordernisse reagiert werden. Diesen Gedanken zu Ende gedacht, benötigt der Fußball der Zukunft überwiegend flexible, auf unterschiedlichen Positionen einsetzbare Spieler, die idealerweise beidfüßig sind, damit sie situativ möglichst alle denkbaren Winkel zielgerichtet bespielen können.

Van der Vaart und das fußballfolkloristische Gerede vom Zehner

Wenn die These stimmt, dass stetig steigende Geschwindigkeit und Flexibilität für den modernen Fußball kennzeichnend sind, dass sich alle Spieler einer Mannschaft jederzeit sowohl im Offensiv- als auch im Defensivspiel beteiligen müssen, dann kann nicht verwundern, dass der dominante Spielmacher klassischer Prägung, der s.g. Zehner, wie ihn einst in Deutschland Overath oder Netzer in den Siebzigern interpretierten, ausgestorben ist. Der letzte dieser Art hat m.E. in Gestalt von Diego im Sommer 2011 den VfL Wolfsburg und damit die Liga verlassen. Den Luxus, das eigene Spiel von der Tagesform eines einzigen Spielers abhängig zu machen, dafür sogar eigenst einen Spieler abzustellen, der ggf. die Drecksarbeit für den Regisseur erledigt (bspw.: „Hacki“ Wimmer für Netzer), kann sich keiner mehr erlauben.

Heute hat ein zentral-offensiver Mittelfeldspieler vielfältigste, funktionale Aufgaben im Gesamtsystem der Mannschaft zu erfüllen. Kreative Pausen, das war gestern.

Eindeutig bedeutender und vom Boulevard meist ignoriert ist jedoch die Rolle der defensiven Mittelfeldspieler, der Sechser geworden. Im Idealfall beschränken sie sich nicht auf das Unterbinden gegnerischer Angriffe, sondern geben Takt und Rhythmus vor. Dabei sind strategische Fähigkeiten ebenso gefragt, wie körperliche Attribute. Zwei groß gewachsene, kopfballstarke Sechser erhöhen nicht nur im Mittelfeldgeplänkel die Chance auf den Ballgewinn, sondern können situativ erfolgreich die Innenverteidigung gerade bei hohen Bällen (Standards) sinnvoll verstärken.

Wenn Ruud van Nistelroy unlängst behauptete, van der Vaart habe an Leistungsstärke nichts eingebüßt, dann mag das sogar zutreffen. Nur sind die Anforderungen in der Bundesliga in Sachen Handlungsschnelligkeit und im läuferischen Bereich speziell in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Ralf Rangnick stellte jüngst im SPIEGEL-Interview dazu fest:

Seit acht Jahren ist Fußball fast eine andere Sportart, was die Lauf- und Sprintwerte angeht und die Geschwindigkeit des Umschaltspiels. (http://www.spiegel.de/sport/fussball/ralf-rangnick-sportdirektor-von-rb-leipzig-und-salzburg-im-interview-a-1010346.html)

Die konstante Verknappung von Zeit und Raum und der damit einhergehende zunehmende Handlungsdruck für die Akteure auf dem Feld sind Merkmale dieser Entwicklung.

Um den Gedanken van Nistelroys aufzunehmen – wer von seiner alten Leistungsstärke nichts verloren hat, der kann bei deutlich gestiegenen Anforderungen daher dennoch ungenügen. Zumal zu erwarten ist, dass die Entwicklung insbesondere im läuferischen Bereich keineswegs als gänzlich abgeschlossen zu betrachten ist. Ich erwarte, dass sich die Anzahl hoch intensiver Läufe (Sprints) noch weiter steigert.

In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf die qualitativen Unterschiede in den Laufleistungen von van der Vaart und Spielern wie Holtby oder Nicolai Müller. Unbestreitbar ist, dass van der Vaart, was die reine Laufleistung in Kilometern je Spiel angeht, unverändert wettbewerbsfähig wirkt. Interessant wird es aber, wenn man seine Anzahl an Sprints je Spiel mit denen seines designierten Nachfolgers, Lewis Holtby, vergleicht. Holtby liefert hier ziemlich konstant zweistellige Werte, bei van der Vaart lassen sich unschwer Spiele finden, in den er nur zwei, drei Mal sprintete. In neunzig Minuten. Das bestärkt mich in meiner Wahrnehmung, dass die Mannschaft ohne den medial hochgejazzten Niederländer lauffreudiger, schneller und homogener wirkt.

Die Argumentation Knäbels, van der Vaart sei derzeit der einzige zentrale Mittelfeldspieler des HSV, der so etwas wie Torgefahr ausstrahle, ist zunächst nachvollziehbar. Dennoch muss hinterfragt werden, wie viel davon perspektivisch noch übrig bliebe, sollte man ihn über den Sommer hinaus weiter beschäftigen. Dass aus dem Mittelfeld zu wenig Torgefahr resultiert, ist eines der längst leider tradierten Grundprobleme, an denen das Spiel des HSV keineswegs erst durch die damalige Besetzung der Zentrale mit Tolgay Arslan und Badelj krankt. Immerhin hat man jahrelang dort mit Jarolim einen Stammspieler gehabt, der weder für Kreativität, eine schnelle Spielverlagerung oder einen nennenswerten Torabschluss bekannt gewesen ist.

Der Fußball, und dies dürfte morgen noch mehr als heute gelten, erlaubt aber m.E. nicht mehr, dass man auf einer oder zwei Positionen eklatante Defizite zulässt. Dafür ist er zu anspruchsvoll und zu komplex geworden. Und dafür hat sich der Wettbwerb durch das Auftauchen neuer, ernstzunehmender Konkurrenten, stellvertretend sei hier nur RB Leipzig angeführt, zu sehr verschärft.